Auf einer verschneiten Eisenbahnplattform im Norden des Uralgebirges, tausende Kilometer vom tobenden Krieg entfernt, landen sie: Männer und Frauen aus dem westrumänischen Banat, Zivilpersonen, die über Nacht aus ihrer bürgerlichen Existenz gerissen und zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion gebracht wurden. So geschehen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Man nannte sie einfach „Deutsche“.
Irina Welembowskaja, die selbst in den Ural verbannt war und mit diesen „Deutschen“ Schwerarbeit in der Taiga verrichtet hatte, war Augenzeugin der beschriebenen Geschehnisse. Ihre Darstellung ist damit nicht nur authentisch und unmittelbar, sondern vermittelt auch – ganz in der großen russischen Romantradition – Emotionen in packender Intensität: den Kampf um Menschlichkeit in unmenschlichen Situationen, die Suche nach Verständnis und Hilfsbereitschaft, die Hoffnung auf Überleben in einer Welt, die von blutigen Kon-flikten zerrissenen ist.
„Deutsche“, eigentlich eine Liebesgeschichte, durfte wegen der Schilderung geheimgehaltener Vorkommnisse, wie sie die Autorin selbst miterlebt hatte, in der Sowjetunion nicht veröffentlicht werden. Der Roman erschien erst 2002.
296 Seiten, gebunden mit Umschlag
ISBN: 3-9501769-1-8,
Euro 15,00
Pressestimmen
Veronika Wengert
„Liebe auf der Lagerpritsche. Zarte Hoffnung inmitten tiefster Grausamkeit“
11-02-2002 Moskauer Deutscher Zeitung
Als Irina Welembowskaja vor zwölf Jahren gestorben ist, dachte niemand daran, ihre Erinnerungen zu veröffentlichen. Jahrelang verstaubten die Aufzeichnungen im hauptstädtischen Literaturarchiv. Nun wollen Tochter Xenija und Schwiegersohn Alexander Wassin den Schicksalsroman der Moskauer Schriftstellerin und Drehbuchautorin publizieren – pünktlich zum 80. Geburtstag am 23. Februar.
Irina Welembowskaja war erst 20 Jahre alt, als sie das Lagerleben kennen lernte. Die behütete Tochter aus einer alten Moskauer Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs aus einer Welt voll Literatur und Kunst herausgerissen und in den Ural verschleppt. Irgendwo in der Nähe von Nischnij Tagil teilte sie dann ihr Schicksal mit verschleppten Deutschen aus dem rumänischen Banat und Transsilvanien. Männer und Frauen, ob 16 oder 50, wurden dort zur Zwangsarbeit gezwungen und mussten schwere Bäume fällen und schleppen. “Doch diese Tatsache verschweigt man bis heute oftmals”, so Alexander Wassin, Schwiegersohn der verstorbenen Schriftstellerin.
“Irina hat fließend Deutsch gesprochen und konnte sich mit den anderen Arbeitern problemlos verständigen”, erzählt Wassin. Mitte der 1950er Jahre begann die Russin, ihre Kriegserinnerungen aufzunotieren, sie hatte genug Stoff für eine Romanvorlage. Ihre Schilderungen und Erinnerungen sind ein lebendiger Zeitzeugenbericht, der weder pathetisch ist noch die Schuldigen anprangert. Zwischen Bettpritschen und Schwerstarbeit keimt die Liebesbeziehung zwischen Rosa und Rudolf, einem Deutschen aus dem Banat, zärtlich auf. Eine verbotene Frucht, die trotz der Kriegswirren eine Hoffnungspur hinterlässt.
“Die Heldin trägt Züge meiner Schwiegermutter, wir vermuten deshalb, dass sie selbst in einen Deutschen verliebt war. Doch sie hat niemals darüber gesprochen, sondern es immer nur vage angedeutet”, so Wasin. Erst als sie den Roman auf dem Dachboden gefunden haben, dämmerte es Tochter und Schwiegersohn, was Irina durchgemacht hatte, ohne sich jemandem mitteilen zu können.
Eine weitere Kopie des Romans verstaubte jahrelang im Moskauer Literaturarchiv. Nun suchen die Erben einen Verlag, der die rührselige Liebesgeschichte drucken soll. Das Werk ist nicht die erste Veröffentlichung von Irina Welembowskaja, jedoch ihr Debütroman. Zu Sowjetzeiten schrieb die Autorin Kurzgeschichten und Erzählungen. Dabei zog sich das Schicksal der russischen Frau als Leitmotiv durch fast all ihre Werke. Als Drehbuchautorin machte sie sich einen Namen mit dem bis heute im Fernsehen gezeigten Film „Frauen“. Am 23. Februar würde die Moskauerin ihren 80. Geburtstag feiern.
Leseprobe
Strebl arbeitete schon lange allein. Er verfiel immer öfter in düstere Stimmung und wich seinen Kollegen aus. Mit Hilfe der Bügelsäge konnte er ohne Anstrengung zwei bis drei Festmeter Brennholz pro Tag schneiden. Nicht einmal der indessen angebrochene starke Frost konnte ihm etwas anhaben. Sobald Strebl in der Früh aus der Hütte gestürmt war, begann er sofort wie rasend die Axt zu schwingen, ohne vorher ein Feuer anzumachen, bis sich seine Finger erwärmt hatten. Danach flogen die Fäustlinge in den Schnee, die Jacke folgte hinterher. Ihm wurde fast heiß . Nachdem er die Arbeit beendet hatte, zündete er schnell ein Feuer an, warf die Äste hinein und eilte in die Baracke zurück, wo der Ofen warm brannte. Nachdem Strebl die vom Frost steinhart gewordene Kleidung abgelegt hatte, streckte er sich genüsslich auf dem Bett aus. Rosa hatte bei seinem Eintreffen immer bereits das Essen fertig.
Obwohl Rosa die immer offenere Abkühlung von Rudolfs Gefühlen ihr gegenüber spürte, sorgte sie weiter selbstlos für ihn: Sie nähte und flickte seine Kleidung, wusch seine Sachen, kochte das Essen und fand noch fast jeden Tag die Zeit, ins benachbarte Dorf zu eilen, um Milch für ihren Rudi zu holen. Manchmal, wenn sie bereits gekocht und Maria die Küche übergeben hatte, ging sie sogar zur Arbeitsstelle in den Wald, um Strebl zu helfen, seine Arbeit zu beenden.
„Was für ein gutes Frauenzimmer du da nur erwischt hast!“, wurde Ranner nicht müde, neidvoll zu wiederholen.
„Stimmt , ein sehr gutes …“, stimmte ihm Strebl zu.
Er gab Rosa alles Geld ab, das er verdiente, und sie kaufte am Sonntag auf dem Basar Brot, Mehl und Kartoffeln. Dort verkaufte sie Wollfäustlinge, die wegen ihrer ungewöhnlichen Muster von den Russen bewundert wurden, oder Tücher, die sie in ihrer Freizeit gestrickt hatte, und selbst diverse Gegenstände aus Holz, die Strebl gebastelt hatte; manchmal tauschte sie diese Dinge auch gegen andere Gegenstände ein, die sie benötigte. Es mangelte nicht an Nahrungsmitteln, und die beiden vergaßen sogar, was Hunger bedeutete. Doch in der Nacht besuchte Rudolf sie immer seltener. Unendlich müde am Ende eines Tages schlief sie mit Tränen in den Augen ein und versuchte zu glauben, dass Rudi nur deshalb nicht kam, weil er völlig erschöpft war von der Arbeit im frostigen Wald.
Als ihr Verhältnis zu Strebl für die anderen Deutschen schon zu offensichtlich wurde, begannen allmählich von Neid genährte Gerüchte die Runde zu machen – so etwa: „Einige haben es sich gut gerichtet, schlafen mit der Köchin und kennen keine Sorgen …“ Strebl, der in der letzten Zeit ohnehin nervös und reizbar war, geriet sofort außer sich, sobald jemand auf sein nicht uneigennütziges Verhältnis zu Rosa anspielte.
„Koch das Essen für uns mit Lebensmitteln, die es in der allgemeinen Speisekammer nicht gibt!“, wies er sie an. „ Es fehlte noch, dass womöglich der Verdacht des Diebstahls auf dich fällt!“
„Gut“, antwortete sie ergeben.
Nun kochte sie Rudolf große, weiße Kartoffeln aus dem Dorf anstelle der kleinen, halb gefrorenen, wie es sie im Lager gab, eine Suppe mit selbst gemachten Nudeln, Kissel-Gelee aus Milch oder Preiselbeeren, die sie noch im Sommer gesammelt hatte. Aber aus irgendwelchen Gründen blieb Strebl selbst dieses Essen immer mehr im Hals stecken.
„Du solltest der Küche überhaupt fernbleiben“, sagte er zu Rosa.
„Gut“, willigte sie wiederum ein. Dann blitzte in ihren Augen eine freudige Hoffnung auf: „Werde ich gemeinsam mit dir arbeiten?“
Strebl drückte ihr sanft die Hand – er war gerührt von ihrem innigen Wunsch, in seiner Nähe zu sein. Aber es gab einen Umstand, der ihn zurück hielt: Rosa erwartete ein Kind, und er fand, es wäre ehrlos von ihm, sie in diesem Zustand so hart arbeiten zu lassen. Doch Rudolfs Bedenken fanden ein Ende, als sein früherer Arbeitspartner, der schnurrbärtige Böhme Irleweck, der im Wald ohne die Brotration seiner kleinen Frau auskommen musste, Strebl übersah und vor aller Ohren verkündete:
„Gut erfüllt der seine Norm, wer eine Geliebte in der Küche hat.“
„Wiederhol, was du eben gesagt hast!“, brüllte ihn Strebl an.
„Nun, stimmt es etwa nicht?“, erwiderte Irleweck finster.
„Du lügst, du Schwein!“, keuchte Strebl, der vor Wut sogar heiser geworden war. „Erstens ist Rosa nicht meine Geliebte, sondern meine Frau. Und zweitens … werde ich dir jetzt die Fresse polieren!“
„Rudolf!“, schrie Rosa entsetzt auf.
Der Schlag traf den Böhmen in die Zähne Der Riese schüttelte den Kopf, fasste sich mit der Hand an den Kiefer und stürzte sich auf Strebl. Er war fast um einen Kopf größer und in den Schultern breiter und versetzte Strebl einen derartigen Hieb in den Bauch, dass dieser gleich nach rückwärts flog und mit dem Kopf gegen die Wand stieß. Rosa stieß einen Entsetzensschrei aus, woraufhin Tamara angelaufen kam.
„Habt ihr den Verstand verloren?“, fragte sie erschrocken, als sie sah, dass Strebl und Irleweck dabei waren, sich aufeinander zu stürzen.
Sie stellte sich entschlossen zwischen sie, aber, der Böhme, außer sich vor Wut, stieß auch sie weg. Das versetzte Strebl in Weißglut, und er versetzte dem Böhmen noch einen wuchtigen Schlag ins Gesicht.
„Wage es nicht, Fräulein Tamara mit deinen schmutzigen Händen anzurühren“, röchelte er, „oder ich verstümmle dich, Schurke!“
Tamara sah Rudolf zum ersten Mal in Wut. Das machte sogar ihr Angst. Schließlich fesselten die Deutschen Irleweck, Tamara wiederum bedeutete Strebl, ihr in den Flur zu folgen. Er ging ihr schweigend nach und wischte sich das Blut von der verletzten Nase. Rosa stürzte auf sie zu.
„Nun, wie ist es zu dem Streit gekommen?“, fragte Tamara streng.
Strebl senkte den Kopf und schwieg. Rosa weinte.
„Morgen schicke ich Irleweck ins Lager“, erklärte Tamara, „und du wirst nicht länger der Älteste sein. Was ist das für ein Ältester , der sich prügelt?“
„Ich danke Ihnen“, flüsterte Strebl mit geschwollenen Lippen.
„Wofür?“
„Ich wollte Sie schon längst darum bitten, und ich bitte Sie auch jetzt: Erlauben Sie Rosa, gemeinsam mit mir zu arbeiten. Möge doch jemand anderer die Stelle der Köchin einnehmen. Ich will nicht, dass sie des Diebstahls verdächtigt wird. Wir verdienen uns unser Brot selbst.“
Tamara wurde verlegen – zum ersten Mal bekannte Strebl ihr gegenüber seine Nähe zu Rosa. Die Situation war ihr peinlich und unangenehm.
„Das ist nicht nötig“, entgegnete sie. „Ich kenne Rosa und ich vertraue ihr.“
„Wir bitten Sie beide darum, Fräulein Tamara“, griff Rosa zaghaft ein.
„Nun, wie ihr wollt.“
Am Morgen brachte Wlas Petrowitsch Irleweck ins Lager, Rosa und Strebl gingen zum Holzschlag. Er marschierte finster voran, sie folgte seiner Spur, eingepackt in ein großes Schultertuch, schweigend, aber glücklich. Als sie zu der Stelle kamen, wo er früher sorglos vor sich hin pfeifend Bäume gefällt und zersägt hatte, blieb Strebl stehen, seufzte und sah sich nach Rosa um. Sie stand neben ihm: die Nase war rot vom Frost, in ihren Augen standen kleine Tränen. Ihr war kalt.
Strebl machte Feuer. Rosa half ihm, indem sie Äste sammelte.
„Wärm dich, Rosa“, lud er sie ein, als die Flammen zu knistern begannen.
Sie lächelte ihn dankbar an, zog ihre Fäustlinge aus und streckte die Hände zum Feuer aus. Danach machten sie sich an die Arbeit. Strebl stellte fest, dass Rosa gut sägen konnte, obwohl sie schon lange keine Säge mehr benutzt hatte, und als er ihr anbot sich auszuruhen, beeilte sie sich abzulehnen:
„Nein, Rudi, ich bin überhaupt nicht müde. Mit dir ist es so leicht zu arbeiten!“
Er lächelte insgeheim und griff zur Axt. Rosa sammelte flink Äste ein und häufte sie am Lagerfeuer auf. Sie arbeiteten friedlich miteinander, lächelten einander zu, und sobald Strebl abschätzen konnte, dass das gesägte Brennholz völlig ausreichend war, um die Norm für beide zu erfüllen, begann er wie früher vor sich hin zu pfeifen. So gegen drei Uhr sagte er:
„Du kannst gehen, Rosa. Den Rest mache ich selbst.“
„Ich werde dir etwas Gutes kochen“, versprach sie und lief fröhlich in Richtung Hütte.
Strebl spaltete das Brennholz weiter und stapelte es, bis die Dunkelheit hereinbrach. Tamara traf ihn in der Dämmerung beim Lagerfeuer an – er rauchte gerade seine Papirossy fertig. Sie merkte sofort, dass er sehr müde war, lächelte unwillkürlich und fragte ihn:
„Nun, wirst du dich nicht mehr prügeln, unglückseliger Raufbold?“
„Nein, Fräulein Tamara“, murmelte Strebl.
Es vergingen ein paar Tage und allmählich pfiff Strebl nicht mehr vor sich hin und lächelte Rosa nicht mehr an, sondern riss verbittert am Sägegriff. Er war zunehmend übermüdet und verdrossen.
„Wenn wir so weiterarbeiten, werden wir keine Lebensmittelmarken sehen“, äußerte er verärgert zu Rosa. „Ich weiß nicht, wessen Schuld das ist, deine oder meine, aber mit jedem Tag machen wir immer weniger Brennholz.“
„Es ist sehr schwer, dicke Bäume zu sägen“, versuchte Rosa sich zu rechtfertigen. „Wäre es nicht besser, da hinüber zu gehen, wo kleinere Bäume sind?“
„Du hast keine Ahnung!“, unterbrach Strebl sie gereizt. „Es ist vorteilhafter, dicke Bäume zu sägen. du musst nur energischer arbeiten.“
„Gut, ich werde mir Mühe geben“, antwortete sie und begann schneller zu sägen.
„Jetzt drückst du zu stark! Du sollst die Säge lockerer halten! Das habe ich dir schon so oft gesagt!“
Rosa hob den Kopf, starrte ihn an und aus ihren Augen rannen Tränen.
„Nun …“, er wusste, dass er ihr Unrecht getan hatte, aber sein Unmut ihr gegenüber war stärker. „Warum weinst du denn?“
Sie ließ sich auf einem gefällten Baum nieder, verdeckte ihr Gesicht mit den Händen, begann bitter zu weinen, und als er sich zu ihr setzte, flüsterte sie:
„Du liebst mich nicht mehr … Und das Kind bewegt sich schon … Ich wollte es dir sagen, aber du bist so grob zu mir …“
Strebl nahm ihre frierende Hand und küsste sie.
„Es ist gemein von mir, dich so arbeiten zu lassen. Schuld daran hat dieser verfluchte Irleweck – verkommen soll er! du könntest jetzt in der Küche sein und alles wäre gut.“
„Nein, Rudi“, entgegnete sie und wischte sich die Tränen ab. „Das hat nichts mit Irleweck zu tun. Für mich wäre es auch in der Küche schwer, weil du mich nicht mehr liebst. Glaubst du etwa, ich sehe nicht, wie du Fräulein Tamara ansiehst?“
„Unsinn!“, rief Strebl aus und sprang auf.
Rosa zuckte zusammen und verstummte. Strebl schwang wild die Spaltaxt und schlug einen dicken, meterlangen Holzblock entzwei. Rosa zog sich die Fäustlinge über die vor Kälte erstarrten Hände und machte sich auch an die Arbeit.
Das Weihnachtsfest begingen die Deutschen wehmütig und verbittert.
„Weihnachten ist bei uns ein so großes Fest“, erzählten sie Tamara. „Man zündet Kerzen auf dem Weihnachtsbaum an, der Tisch ist gedeckt … Man singt Stille Nacht, Heilige Nacht … Alle warten auf etwas Feierliches, Außergewöhnliches … Die Kinder freuen sich, weil sie Geschenke erwarten …“
Ranner lag krank; er litt an schwerem Vitaminmangel, hatte Zahnfleischbluten und seine Zunge war geschwollen. Ständig spieh er blutigen Speichel und stieß Flüche aus. Tamara wollte ihn in die Krankenabteilung bringen lassen, aber Ranner protestierte heftig. An sein Bett hatte man eine dichte grüne Tanne gestellt. Die deutschen Frauen schmückten sie mit bunten Stofffleckchen.
„Der Teufel soll meine Magda holen!“, stieß Ranner mit seiner fast unbeweglichen geschwollenen Zunge aus. „Diese Hexe denkt nicht einmal daran, mich zu besuchen, obwohl sie weiß, dass ich mich schon die zweite Woche hier herumschlage … Ich Dummkopf bin selbst an allem schuld, dass ich Frau und Kinder verlassen und mich mit dieser Prostituierten eingelassen habe! Mein ehemaliges Frauchen hätte mich nie im Stich gelassen …“
Strebl machte sich statt Ranner auf den Weg zur Mine, um Brot und Lebensmittel zu besorgen. Gemeinsam mit Wlas Petrowitsch fuhr er um zwölf Uhr mittags vom Wald weg. Der Weg war nicht holprig, das kleine Pferd lief die ganze Zeit im Trab. Rasch passierten sie den Bagger und fuhren weiter den Fluss entlang, der im dicken Panzer des Eises fest gefroren war.
„Ich fürchte, gegen Abend könnte sich ein Schneesturm erheben … verdammt!“, meinte der Alte und hüllte sich fester in seinen langen Pelzmantel. „Schlimm ist das, es weht ganz schön stark. Das geht durch Mark und Bein – verflucht! Halt an Rudi, ich werde mir die Füße vertreten, die Füße … verdammt, sind vor Kälte ganz steif.“
Tatsächlich wurden Frost und Wind immer stärker. Strebl war bis in die Knochen durchgefroren. Er atmete erleichtert auf, als sich in der verschneiten Ferne kleine Rauchwölkchen zeigten, die von den Dächern aufstiegen. Im Lager wärmte er sich auf, und nachdem er das Brot und die Lebensmittel erhalten hatte, begann er auf Wlas Petrowitsch zu warten, der seine alte Frau besuchen gegangen war. Er wartet lange. Es war schon fast ganz dunkel geworden, als der Alte ankam, leicht angetrunken und fröhlich.
„Hör zu, Rudi, fahr allein los, Bruder. Mir passt es nicht: Die Alte heizt die Banja auf, und ich bin schon ganz verdreckt. Fahr nur vorsichtig, Brüderchen.“
Strebl stimmte zu, aber kaum hatte er die Siedlung hinter sich gelassen, bereute er auch schon seinen Entschluss. Der ganze Weg war mit dichtem, festem Schnee verweht. Der Wind pfiff so durchdringend und bedrohlich, dass Strebl erschrak und überlegte, ob es nicht besser wäre, zum Lager zurückzukehren. Als ihm jedoch einfiel, dass die Holzfäller am Morgen nicht einen Bissen Brot haben würden – und das an einem Tag wie Weihnachten -, schwang er entschlossen die Peitsche und trieb das Pferd an. Die Ladung war nicht allzu groß: insgesamt drei Säcke Brot, die jeder an die vierzig Kilo wogen, dazu etwa zwei Pud, gut dreißig Kilo, Grütze und andere Nahrungsmittel.
Doch der Weg war so stark verweht, dass das Pferd immer wieder im Schnee stecken blieb, stillstand und heftig schnaubte. Die Versuche, es anzutreiben, kosteten Strebl selbst beinahe die letzten Kräfte. Er hoffte, wenigstens bis zum Wald zu gelangen, wo der Weg doch von Verwehungen verschont geblieben sein musste. Doch bis dahin lagen noch an die zwei Kilometer freien Feldes entlang des Flusses. Indessen hatte sich die Dämmerung verdichtet und düstere, eisige Dunkelheit brach herein.
Bald zog er das Pferd an den Zügeln, wobei er selbst mit den Füßen den Weg ertastete, dann wieder machte er sich daran, mit den Händen den Vorderteil des Schlittens vom Schnee zu reinigen, der sich gesammelt hatte und dort anfror. Die kleine Stute setzte immer wieder zu einem Sprung an, um hochzukommen, spitzte die Ohren und schien sich aufrichtig Mühe zu geben, ihrem unglücklichen Herrn zu helfen, den Schlitten von der Stelle zu ziehen. Strebls Hände wurden starr vor Kälte, Frost und Wind stachen ihm wie Nadeln ins Gesicht. Er fluchte mit sämtlichen Ausdrücken, die es nur in allen Sprachen geben kann, und verlor schon den Mut.
Der Schlitten stand wieder einmal inmitten eines Schneefeldes, und obwohl Strebl nicht vom Weg abgekommen war und fühlte, dass er auf einer festen Spur stand, wurde es immer schwieriger sich fortzubewegen. Aber er stampfte weiter den harten, trockenen Schnee fest und bemühte sich, das Pferd hinter sich herzuziehen. Ihm schien, als wären schon Stunden vergangen, seit er sich hier am offenen Feld abfror. Der Wald in der Ferne wurde immer schwärzer, der Abstand dorthin wurde immerhin allmählich kürzer, doch dann geschah etwas, womit Strebl nicht gerechnet hatte: Das Pferd riss die Fuhre mit einem Ruck nach vorn aus dem Schnee, die Deichsel löste sich und blieb im Schnee stecken. Nun blieb das Pferd endgültig stehen und schüttelte schuldbewusst die Mähne. Strebl sah angestrengt in die Ferne. Bis zum Wald war es nicht mehr als ein Kilometer. Er raffte sich auf, lud sich einen der Säcke, nachdem er ihn im Schnee zusammengebunden hatte, auf die Schultern und trug ihn ungefähr zweihundert Meter weit. Dann ging er zurück, um die Nächsten zu holen. Nun schleppte er selbst die ganze Ladung hinüber und befestigte, davon ein wenig aufgewärmt, so gut es ging die Deichsel mit einem Strick am Schlitten, nahm das Pferd an den Zügeln und führte es mit dem Wagen zu den Säcken. Doch selbst den leeren Wagen zog es nur mit Mühe.
Von neuem schleppte er die Säcke ein Stück weiter, und wieder führte er das Pferd hinterher. Im Wald konnte man die Säcke im Schnee vergraben und auf dem leeren Schlitten zur Hütte fahren, um Hilfe zu holen. Die Nahrungsmittel an sichtbarer Stelle abzuwerfen, konnte er sich nicht entschließen, obwohl ihm klar war, dass sie wohl kaum jemand in dieser menschenleeren Eiswüste stehlen würde.
Als Strebl gerade dabei war, sich zum dritten Mal einen Sack auf die Schultern zu laden, bemerkte er die dunklen Umrisse eines herannahenden Schlittens. Einen Augenblick später sprang Tamara heraus und eilte ihm entgegen.
„Was ist mit dir geschehen? Und wo ist Wlas Petrowitsch?“
Strebl konnte kein Wort hervorbringen. Seine Lippen zitterten und er klapperte mit den Zähnen. Tamara sah sich um und erblickte die auf dem Boden liegenden Säcke und das Pferd, das in einer Schneewehe stecken geblieben war.
„Bist du nicht abgefroren, Rudolf?“
„Die Hände“, flüsterte er.
Tamara ergriff seine Hände und begann, sie mit Schnee abzureiben. Er konnte sich kaum halten, nicht vor Schmerz zu schreien. Lange rieb sie sie, dann knöpfte sie ihren Fellmantel und ihre wattierte Jacke auf und steckte seine Hände unter ihre Achseln.
„Wärmer?“, fragte sie und drückte ihn unwillkürlich an sich.
Der Schmerz war höllisch, aber Rudolf beachtete ihn kaum. Das Gesicht des Mädchens war so nah, dass er die Wärme ihres Atems spüren konnte. Sie fragte ihn noch etwas, aber aufgrund seiner Erregung bekam er davon nichts mit. Nun nahm Tamara seine gefrorenen, hart gewordenen Fäustlinge und gab ihm ihre, die noch warm waren; mit Mühe schob er seine großen Hände hinein. Nachdem sie die Brotsäcke zu sich in den Laderaum des Schlittens hinübergeladen hatte, spannte sie Strebls Pferd aus und band es hinter ihrem Schlitten fest.
„Wir werden deinen Schlitten morgen holen. Setz dich, wir müssen schnell fahren. Wie geht es deinen Händen?“
„Sehr schmerzt, Fräulein …“, versuchte es Strebl auf Russisch.
„Das werde ich Wlas Petrowitsch geben! Dieser alte Teufel hat dich allein auf diesen Weg fortgeschickt!“
„Er gegangen in Banja, Dampfbad …“, erwiderte Strebel verlegen.
„Ich werde ihm schon ein Dampfbad machen!“
Schweigend fuhren sie dahin. Tamara saß mit dem Rücken zu ihm.
„Du hättest diese dummen Säcke stehen lassen sollen und zu Fuß zur Hütte gehen“, meinte sie schließlich nachdenklich, und er sah ihr an, wie besorgt sie war.
„Aber alle warten Brot…“, murmelte Strebel ratlos.
„Was heißt Brot!“, schrie Tamara beinahe auf. „Ist dein Leben etwa nicht mehr wert, wie?“
„Und wenn es jemand gestohlen hätte oder wir es wegen des Schnees nicht mehr gefunden hätten? …“, entgegnete Strebl wieder auf Deutsch, nachdem er wieder ein wenig zu sich gekommen war. „Ich konnte das einfach nicht tun.“
Tamara schwieg. Als sie sich zu Strebl umwandte, erschien ihm der Ausdruck auf ihrem Gesicht fremd.
„Rudolf, mein Lieber … verzeih mir, dass ich dich unlängst gescholten habe.“