Der Alte und der Engel


Roman von Alexander Kabakow
Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit

Der Roman ist ein satyrisches, kollektives Porträt der Generation Kabakows und zugleich ein Panorama dieser Zeit. In kunstvollen Beschreibungen schildert der Autor die Konflikte und Gegensätze,  die  das Leben in Russland prägen und interpretiert dazu auch westeuropäische Mythen, wie etwa den des Faust, auf die ihm eigene, originelle Weise. 

Die Rettung durch Liebe wird auch in Kabakows Roman zum Hauptthema, und in einem Interview erlärte dies der Autor so: „Liebe ist das einzige Mittel gegen die Absurdität des Lebens.“

„Alexander Kabakows Roman beschreibt eine Liebe mit glücklichem Ausgang 
im Zeitalter des Protests“

290 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-9503914-0-4

Euro 24,40

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Rezension


Natalija Kotschetkowa Time Out
Der Roman ist ein satyrisches, kollektives Porträt der Generation Kabakows und zugleich ein Panorama dieser Zeit. In kunstvollen Beschreibungen schildert der Autor die Konflikte und Gegensätze,  die  das Leben in Russland prägen und interpretiert dazu auch westeuropäische Mythen, wie etwa den des Faust, auf die ihm eigene, originelle Weise. 

Die Rettung durch Liebe wird auch in Kabakows Roman zum Hauptthema, und in einem Interview erlärte dies der Autor so: „Liebe ist das einzige Mittel gegen die Absurdität des Lebens.“

„Alexander Kabakows Roman beschreibt eine Liebe mit glücklichem Ausgang 
im Zeitalter des Protests“

Leseprobe


Wäre Kusnezow gestorben, hätte darin nichts Verwunderliches gelegen. Schließlich sterben alle, und alte Leute sterben erst recht andauernd. Ehe man sich’s versieht, hat wieder irgend so ein Greis den Geist aufgegeben, und andere Greise, die bislang noch am Leben sind, schieben ihn auf einem hohen eisernen Karren, den sie neben dem Eingangstor des Friedhofs ausgeliehen haben. 

Aber Kusnezow starb nicht, das ist es ja gerade.

Damit fing alles an. 

TEIL EINS

Erstes Kapitel

Der Held ist noch nicht geboren,

doch es wird bereits etwas unternommen, damit er auf die Welt kommt

Das Unangenehmste für die Bewohner der langen einstöckigen Holzbaracke mit den beiden Eingängen – von jeder Seite einer – war die Feuchte. Die Geländer der Treppen, die in das Obergeschoss führten, fühlten sich glitschig an, und in den Aufgängen roch es nach moderndem Holz. Diese Feuchte hatte eine natürliche Ursache, schließlich stand das gesamte Barackenviertel auf einem zugeschütteten versumpften Teich, war aber auch handgemacht (wobei „hand-“ freilich nicht wörtlich zu nehmen ist). Wildfremde Leute, Bewohner der Nachbarbaracken, ja die Mieter selbst pinkelten – um nicht rundheraus zu sagen: pissten – im Schutze der Dunkelheit ständig in die Treppenhäuser. Dabei gab es im Hof, keine zehn Schritte entfernt, aus Brettern zusammengezimmerte Trockenklos! Doch der faulige Geruch überdeckte sogar den Uringestank. 

Feuchte und Fäulnis durchdrangen die Flure der beiden Stockwerke, machten nicht Halt vor den Gemeinschaftsküchen – eine pro Etage und Aufgang, jeweils an der Stirnseite gegenüber den Eingangstüren, sodass alle Küchen horizontal und vertikal aneinandergrenzten – und erst recht nicht vor den Zimmern links und rechts der Korridore. Jedes dieser Zimmer hatte eine Fläche von zwölf, teils auch vierzehn Quadratmetern, was der Wohnraumnorm für eine mittlere Familie zumindest nahekam. Die drei Großfamilien – die Swonarews, die Kogans und die Signatulins, jeweils sieben, acht Personen – bewohnten sogar zwei Zimmer. Bei den Swonarews lagen sie allerdings in verschiedenen Aufgängen, was im Hinblick auf die Küchenbenutzung Erschwernisse mit sich brachte. 

Feucht aber war es überall gleichermaßen. Wenn im Winter die Öfen geheizt wurden, erfüllte stinkender Qualm die Räume, und wenn die Öfen erkalteten, wurde dieser Nebel, ehe er sich auflösen konnte, eiskalt und setzte sich als zusätzliche Feuchte ab. Die Öfen waren massig und schwer wie die kastrierten Eber, die die habsüchtigen Jurassows im Schuppen gegenüber der Baracke hielten. Geheizt werden mussten diese Kolosse – ihre Flanken ragten jeweils in zwei benachbarte Zimmer hinein – vom Korridor aus. Dort waren vor den Ofentüren Bleche auf den Fußboden genagelt, um Brände zu verhindern, und daneben standen Eimer mit kleinen, reichlich verschmutzten Kohlebrocken. Die Vorräte an Brennmaterial lagerten in einem langen Schuppen, der gegenüber der Baracke stand und mit seinen abgeteilten Verschlägen, die der Anordnung der Zimmer entsprachen, gleichsam ihr verkleinertes Abbild darstellte. In diese Verschläge schütteten die Mieter die Kohle, die sie im Herbst am Bahnhof gekauft und auf seinerzeit dort noch anzumietenden Lastkarren nach Hause transportiert hatten. Außerdem wurde in den „Schuppens“, wie die Mieter ihre Bretterverschläge nannten, allerlei Krimskrams aufbewahrt. Zum Beispiel Kopf- und Fußteile von eisernen Bettgestellen, deren geflochtene Metallnetze längst löchrig geworden waren, völlig außer Gebrauch geratene Samoware mit Schmuck-Medaillen, die von ganz anderen Zeiten kündeten, oder ähnlicher Plunder. Und die bereits erwähnten Jurassows hielten dort obendrein noch Schweine. 

Aus diesen Verschlägen verschwand unerklärlicherweise nie etwas, obwohl Wäsche, die zum Trocknen auf den zwischen Schuppen und Baracke gespannten Leinen hing, regelmäßig gestohlen wurde, dreist und am helllichten Tage. Der Dieb ergriff die Flucht, vergeblich verfolgt von der Besitzerin der Wäschestücke, und so ging die Jagd bis zur Wendeschleife der Straßenbahn, wo der Bösewicht, der sich die Laken inzwischen höchstwahrscheinlich unter die Jacke gestopft hatte, seelenruhig in die Linie 5 stieg, die gerade scheppernd und mit leichter Schlagseite losfuhr, während die bestohlene Frau auf die Erde plumpste, um Atem zu schöpfen und ein paar Tränen zu vergießen.

Bei der Kohle, die die Mieter der von ein und demselben Ofen beheizten Zimmer gemeinschaftlich kauften und in Eimerportionen vor die Ofentür im Korridor stellten, bestahlen sich die Parteien hingegen niemals. Nicht aus sentimentaler Barackensolidarität, sondern weil derjenige, der dabei erwischt wurde, auf der Stelle mit allgemeiner Billigung drakonisch bestraft worden wäre.

Das Leben in der Baracke war durchtränkt von fauliger Feuchte, und sämtliche Gefühle der Menschen, die darin wohnten, waren gleichfalls von Feuchte durchtränkt und rochen unangenehm nach Fäulnis, selbst die reinsten.

Morgens erwachte die Baracke früh, denn viele mussten, um zur Arbeit zu gelangen, mit zwei Straßenbahnen und lästigem Umsteigen in das Stadtzentrum fahren. Über den Korridor hasteten, einander anrempelnd und manchmal sogar mit kochend heißem Wasser verbrühend, Frauen und Männer. 

Jemand trug einen Topf Graupensuppe, die bereits zwei Tage alt, fast sauer geworden und deshalb übergekocht war, aus der Küche. Ihm entgegen kam ein anderer mit einer kleinen Nickelschale voller abrasierter Barthaare in Seifenschaum. 

Eine Matrone in einem Kittel aus chinesischer Beuteseide, an den Füßen die Gummigaloschen ihres Ehemannes, strebte mit einem Nachttopf, über den ein Stück Pappe gelegt war, nach draußen, zu einem der vier zweitürigen Klohäuschen, die die Schuppen von beiden Seiten umrahmten. In die entgegengesetzte Richtung – aus der Latrine in die Baracke – schlurfte grußlos ein mürrischer Mann in angerautem Baumwollunterhemd, dunkelblau gestreiften, in einem hohen Formbund endenden Stiefelhosen und abgeschnittenen Filzstiefeln an den bloßen Füßen.

Dann kam wieder jemand aus der Küche, diesmal mit einem emaillierten Teekessel. Auf das kochende Wasser wartete im Zimmer bereits ein kobaltblau-goldenes Aufgusskännchen, in dessen Bauch georgische Teeblätter Marke „Extra“ eingefüllt waren und das statt des schon lange zu Bruch gegangenen passenden Deckels eine weiße Behelfsabdeckung trug.

Und schließlich erschien ein magerer kleiner Junge in dicken Skihosen und einem Turnhemd mit schmalen Trägern. Schweigend, ohne einen Mucks, wich er der unter einem Küchentisch hervorgesaus­ten Ratte aus, während die Frauen wie üblich kreischten und die zufällig anwesenden Männer eher unlustig und nur anstandshalber reagierten.

In dieser frühen Morgenstunde entstanden keinerlei Gefühls­regungen außer – bis hin zu Hass reichender – Gereiztheit.

Schnell die erkaltende Suppe löffeln.

Einen Schluck Tee trinken zu dem Kanten Graubrot, bestrichen mit billiger Frühstücksmargarine. 

Die Uniformjacke ohne Achselstücke überstreifen, oder den Vorkriegsmantel aus flauschigem Drap mit den großen aufgesetzten Taschen, oder den schwarzen, in einem verschossenen Rotton schimmernden Pelzmantel aus Kaninchenfell, gefärbt „à la Katze“, mit seinen bis auf die weißliche Unterhaut abgeschabten Ärmelrändern. 

Dann im Laufschritt zur Straßenbahn, auf das Trittbrett, sich nach und nach in das von Atemluft erfüllte Wageninnere drängen. 

Was konnte es da für Gefühle geben außer dem Wunsch, dass alle verrecken mochten!

Emotionen, hauptsächlich Liebesgefühle, entstanden nachts, in der mit dem Niederbrennen der Öfen zum Morgengrauen hin unaufhaltsam erkaltenden Luft. Die feuchte Kälte und der unbesiegbare Instinkt trieben die Menschen, die es ohnehin eng hatten in ihren höchstens für eineinhalb Personen ausgelegten Betten oder schlichtweg auf einer Matratze, näher zueinander. Und die Liebe begann. Eine Liebe, die sich still gebärden musste wegen der Anwesenheit anderer Familienmitglieder – Kinder und alte Leute – im Zimmer, wegen der Nachbarn hinter den verputzten Bretterwänden. Eine Liebe, halb erstickt vor Enge, nicht nur lautlos, sondern fast ohne Bewegungen, eine kurze und ungeschickte Liebe.

Was konnte eine solche Liebe schon hervorbringen? Gleichfalls nichts Gutes: Rachitis, Diathese, Dyspepsie, Windeln quer durch das ganze Zimmer und allenthalben säuerlichen Geruch.

Die Kusnezows hatten es sehr gut getroffen in der Baracke. Ihr Zimmer lag im Obergeschoss, ungefähr in der Mitte des Flurs, deshalb zog es weniger von den Eingangstüren und stank nicht so aus der Küche. Andererseits stand Grigori Semjonowitsch Kusnezow aufgrund seiner Dienststellung auch ordentlicher Wohnraum zu. Gleich nach der Armee fand er Anstellung als Leitender Konstrukteur für ein Nomenklaturprojekt der Hauptverwaltung einer Institution, die mit der Landesverteidigung in Verbindung stand und so geheim war, dass man weder ihren Namen noch ihre Adresse nennen, sondern nur von „Postfach 2013“ – oder gar „PF 2013“ – sprechen durfte. Das geräumige Zimmer für ganze drei Personen – Grigori Semjonowitsch, seine Frau Jelena sowie deren Mutter Vera Petrowna Wosnessenskaja – war ihm also völlig verdient zugewiesen worden. Perspektivisch stand sogar noch mehr Platz und Komfort in Aussicht, denn das Ministerium baute für seine besonders geschätzten Mitarbeiter ein solides sechsstöckiges Gebäude mit Gas- sowie Warmwasserversorgung, und fast die Hälfte der Wohnungen dort würden abgeschlossene Einfamilienwohnungen sein. 

Vorerst aber hausten die Kusnezows zu dritt in dem muffigen Barackenzimmer, und all ihre Gefühle waren – nicht anders als die der Nachbarn – vergiftet von Fäulnis und Feuchte. Dabei liebten die Eheleute einander auch am Tag, soweit dies möglich war: platonisch, ohne Berührungen. Und die Beziehung Grigori Semjonowitschs zu seiner Schwiegermutter gestaltete sich erstaunlich harmonisch.  

Schlecht war, dass Grischa und Lena Kusnezow nicht nach Lust und Laune dem leidenschaftlichen, nächtlichen Teil der Liebe frönen konnten. 

Um sich dieser Liebe hinzugeben, mussten sie erstens warten, bis Vera Petrowna schlief. Aber die alte Frau lag, selbst wenn sie aus Mitleid mit Tochter und Schwiegersohn Brom und Baldriantinktur einnahm, lange wach und hatte zudem einen leisen Schlaf. Sie erwachte unvermittelt, stöhnte leise oder zog sogar unter dem schmalen, von ihr als „Couch“ bezeichneten Holzbett den Nachttopf hervor und setzte sich darauf, wobei sie versuchte, aus Feingefühl möglichst unhörbar zu plätschern. 

Wenn sich die gute Alte beruhigt hatte, begann für Grischa und Lena eine heimliche, lautlose Arbeit: Sie mussten die Matratze mitsamt dem Laken und der in einem Bettbezug steckenden Atlas-Steppdecke auf den Fußboden verfrachten. Denn wären die Kusnezows im Bett geblieben, hätte dessen Metallnetz bei der geringsten Bewegung so durchdringend gequietscht, dass nicht nur Vera Petrowna, sondern die gesamte Baracke aus dem Schlaf aufschrecken und lauschen würde, wie sich Chefkonstrukteur Grigori Semjonowitsch der leidenschaftlichen Liebe zu seiner Frau hingibt. 

Und dann war da noch eine zweite Schwierigkeit: Auf die freie Fußbodenfläche passte die Matratze nicht. Das Eineinhalb-Personen-Bett des Ehepaars mit Kugeln auf dem geschwungenen Kopf- und Fußteil; plus die „Couch“ der Schwiegermutter hinter dem nicht sehr standfesten Wandschirm, einem alten Erbstück; plus die Garderobe mit dem in der Dunkelheit trübe schimmernden Spiegel; plus das hohe Stubenbuffet mit der Schnitzerei und den bunten Glasfenstern; plus der runde Ausziehtisch unter der tief herabhängenden Plüschdecke; plus einige Stühle, deren vormals geflochtene Sitzflächen jetzt durch gestrichenes Sperrholz ersetzt worden waren; plus ein schmales Regal, in dem Grigori Semjonowitschs technische Bücher und Romane von Theodore Dreiser standen; plus die Truhe mit gewölbtem Deckel, von der sich Vera Petrowna niemals trennte; plus der Kleiderhaken aus Horn … Kurzum, es gab überhaupt keinen freien Platz. 

Deshalb wurde die Matratze ungefähr bis zur Hälfte unter den Esstisch üblicher Höhe geschoben, und die Oberkörper der Eheleute befanden sich – durch die herabhängende Tischdecke von den unteren Körperteilen getrennt – während der Befriedigung ihres sexuellen Verlangens ungefähr bis zur Gürtellinie unter dem schweren Möbelstück. 

Seinerzeit nahmen viele, ja sehr viele Menschen ihre ehelichen Rechte und Pflichten auf dem Fußboden wahr, weshalb jede Menge Witze über diese „bodennahen“ Beziehungen die Runde machten, was sich umso mehr anbot, als das Russische ‚Geschlecht‘ und ‚Boden‘ mit ein und demselben Wort bezeichnet. Zum Zweiten waren gynäkologische Erkrankungen an der Tagesordnung. Stellen Sie sich doch nur den niedrigen Esstisch, die Nachbarschaft der anderen Mieter in der Baracke und die noch unmittelbarere Anwesenheit einer betagten Verwandten, die Zugluft unter der Tür hindurch und überhaupt die gesamte Lage des Liebespaares vor! Die Bewegungen des Mannes waren durch den Tisch begrenzt, die Gefühle der Frau durch das Wissen, nicht allein zu sein, und wenn Grischa noch irgendwie ein Glücksempfinden erreichte, dann Lena niemals. Morgens redete sie nicht mit Mann und Mutter, brach manchmal sogar, trotz ihres durchaus erträglichen Charakters und einer guten Erziehung, in der Küche Streit mit den Nachbarinnen vom Zaun. Tagsüber blieb Lena zu Hause, weil ihr Mann für sie, die nur eine Siebenklassenschule besucht hatte, keine anständige Arbeit finden konnte, außerdem waren sie nicht auf das Geld angewiesen. Dann kehrte Lena ihrer Mutter den Rücken zu, schaute durch die angelaufene Fensterscheibe über der schmuddeligen, mit rotem Glitter bestreuten Watte zwischen den Rahmen und weinte still. Sie litt am Leben und einem ziehenden Schmerz im Unterleib. Ihr schien, Fäulnis und Feuchte des Fußbodens seien in sie eingedrungen, deshalb gab es kein Glück, und unter dem Bauch zog es.

So verging die Zeit. 

Dabei hatten es andere noch schlechter: Sie teilten sich das Zimmer nicht nur mit der Schwiegermutter, dem Schwiegervater oder einer Tante – die obendrein dem Abschnittsbevollmächtigten nicht unter die Augen kommen durfte, weil sie in Woronesch gemeldet war –, sondern es gab dazu noch ein vormaligen Liebesakten entsprungenes Kind von vielleicht zehn, fünfzehn Jahren. Oder zwei Kinder. Da konnten die Eheleute die Matratze auf den Fußboden zerren oder nicht, mit der Liebe war es sowieso vorbei. Denn der Sprössling würde keinesfalls schlafen, sondern warten und lauschen. 

Bei den Kusnezows wollte es in vier Jahren Ehe einfach nicht klappen mit einem Kind, obwohl Grigori Semjonowitsch schon einunddreißig und Lena achtundzwanzig war und sich beide sehr Nachwuchs wünschten. 

Deshalb klopfte Lena eines Tages an der vierten Tür links von ihrer eigenen, bei den Kogans. Hinter dieser Tür behandelte die Gynäkologin Maria (Miriam, Malka) Jakowlewna (Jankelewa) Kogan abends illegal Patientinnen, die an Frauenkrankheiten litten oder einfach in Schwierigkeiten geraten waren. Da von Zeit zu Zeit aus dem Zimmer der Kogans Schreie drangen – wenn auch gedämpft durch das Tuch vor dem Mund der gerade Operierten – und in der Küche Tücher trockneten, die trotz allem Rubbeln noch rötliche Verfärbungen aufwiesen, pflegte Maria Jakowlewna außerordentlich gute Beziehungen zu den Nachbarn. Insbesondere die Nachbarinnen verarztete sie ohne jede Wartezeit und zudem vollkommen kostenlos, es sei denn, man gab ihr selbst etwas, aus Dankbarkeit.

Wenn Maria Jakowlewna arbeitete, ging die gesamte vielköpfige Kogan-Sippe, angeführt von Marias Ehemann Pjotr Romanowitsch (Pinkas Ruwimowitsch), der ebenfalls Arzt war, allerdings für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten, in das Kino neben der Metro-Station. Wobei die Eintrittskarten fast den zehnten Teil dessen auffraßen, was die fleißige Miriam in dieser Zeit verdiente. Das „Indische Grabmal“ sahen die Kogans vierzehn Mal, den „Dieb von Bagdad“ gar zwanzig Mal, darunter drei Mal ohne eigentliche Notwendigkeit. 

Maria Jakowlewna untersuchte Lena, die in Ermangelung eines gynäkologischen Sessels mit den Beinen auf zwei Stuhllehnen und dem Oberkörper quer über das Kinderbett der beiden jüngsten Kogans lag, aufmerksam und gründlich, wozu sie sich auf den Fußboden knien musste. 

Danach setzten sich die Frauen an den Tisch. Am Rande der Tischplatte lagen Spiegel und Spreizzange, während in der Mitte ein vernickelter elektrischer Teekessel stand, von dem aus ein Kabel nach oben führte. Es endete in einer – allgemein „Gauner“ genannten – Vorrichtung, die an den Sockel der Deckenlampe angeschlossen war und bewirkte, dass der Energieverbrauch nicht über den Zähler lief.

Obwohl Lena heftig abwehrte, goss die Hausherrin zwei Tassen Tee ein und schob der Besucherin auch noch ein welliges, aus drei verschiedenfarbigen Schichten zusammengesetztes, zuckerüberpudertes Stück Fruchtgelee in den Mund.

„Tja, Kindchen, was soll ich sagen“, eröffnete Maria Jakowlewna das Gespräch. „Ich weiß gar nicht recht, wie ich anfangen soll. Nehmen Sie es mir bloß nicht übel, und genieren Sie sich nicht, ich bin doch Ärztin, deshalb muss ich offen sein. Sie haben einen Knick … um Himmelswillen, keine Panik, aber was wahr ist, ist wahr. Ich kann Ihnen doch nicht vormachen, dass alles zum Besten steht, wenn es nicht stimmt …“

Lena brach natürlich sofort in Tränen aus, zum einen, weil sie nicht wusste, was das war, ein Knick, und zum anderen, weil sie in letzter Zeit sowieso ständig weinte, selbst wenn es dafür keinerlei Anlass gab. 

„Nun heulen Sie doch nicht gleich, Sie wissen ja gar nicht, weshalb“, redete Maria Jakowlewna flüsternd auf Lena ein. „Habe ich Ihnen etwa gesagt, es wäre etwas Schlimmes? Na also, habe ich nicht. An einem Knick ist noch keiner gestorben, und Sie sterben auch nicht, das können Sie mir glauben. Am besten, ich erkläre Ihnen das so …“

Hier machte die Ärztin eine Pause und sah zu, wie sich Lena mit dem Saum ihres Flanell-Hausmantels das Gesicht abwischte. Dann redete sie leise, kaum vernehmlich weiter – obwohl sie auch bisher nur geflüstert hatte – und ging dabei zum „du“ über.

„Eines sage ich dir … diese armen Frauen, die da manchmal zu mir kommen … na, du weißt schon … von denen würde jede mit dir tauschen, damit sie endlich Ruhe hätte … die wollen nicht mehr, aber bitteschön, jedes Jahr wieder …“

Jetzt verstummte Maria Jakowlewna vollends und schien selbst verstimmt. 

„Was ist das, ein Knick?“ Lena sprach noch leiser als die Ärztin, außerdem war ihre Stimme tränenerstickt, sodass man nur erahnen konnte, was sie gefragt hatte.

Maria Jakowlewna malte etwas mit ihrem kurzen, akkurat geschnittenen Fingernagel auf die Plüschtischdecke und murmelte dabei: „Das ist so, verstehst du … das ist eben so, dass es nicht in dich reinkommt … deshalb wirst du nicht schwanger, klar?“ Lena betrachtete aufmerksam die gleich wieder verschwindende Zeichnung auf dem Plüsch und dachte, dass die Kogans haargenau so eine Tischdecke hatten wie die, unter der Grischa und sie jede Nacht keuchten, nur in einer anderen Farbe, ihre war dunkelrot, diese hier dagegen dunkelblau. 

Was Maria Jakowlewna jetzt aussprach, ließ Lena auffahren, noch mehr erröten – ihr Gesicht war auch vorher bereits puterrot gewesen – und sich ungläubig vergewissern. 

„Knie-Ellenbogen-Position“, sagte Maria Jakowlewna, „das ist die medizinische Bezeichnung. Ganz allgemein nennen es die Leute … na ja, eben Hundestellung. Also was es da zu genieren gibt, verstehe ich nicht! Du bist doch eine erwachsene Frau und willst gebären, was genierst du dich da? Wenn du dich schämen willst, gibt es überhaupt keine Kinder! Also, man kann es gleich von Anfang an so machen, aber du kannst auch erst normal liegen … und dich danach, wenn Grischa schon kommt, auf den Bauch drehen … Was sitzt du denn so verdattert da ohne einen Mucks? Was habe ich dir denn Schreckliches geraten?“

„Wie soll ich das Grischa beibringen?“, flüsterte Lena. „Ich schäme mich, ihm so was zu sagen … wir reden nie da unten … auf dem Fußboden … Mama schläft ja mit im Zimmer, und überhaupt … Grischa ist streng, das Wort wird ihm nicht gefallen … und überhaupt … wie die Hunde, da schäme ich mich …“

Maria Jakowlewna seufzte, blieb jedoch die Antwort schuldig. Eine Weile trank sie schweigend ihren Tee und überlegte, wie diesem armen Mädchen zu helfen war. Sie selbst, eine gestandene Gynäkologin, genierte sich ein wenig, wenn sie derartige Ratschläge gab, und bei dem Wort „Hundestellung“ errötete sie nicht weniger als ihre Patientin, nur dass man das unter dem Puder – als rötliche Brünette benutzte sie „Krasnaja Moskwa“ in einem dunklen Hautton – nicht sah. 

An dieser Stelle muss zur Vermeidung von Missverständnissen darauf verwiesen werden, dass wir das Jahr 1949 schreiben und sich die Menschen seinerzeit für sehr vieles schämten, ganz zu schweigen davon, dass sie vor fast allem Angst hatten. Was zusammengenommen dazu führte, dass jedes Wort sehr gründlich überlegt sein wollte. Da empfiehlt beispielsweise eine jüdische Ärztin ihrer Patientin, die an einem Knick des Gebärmutterhalses leidet, aber gern schwanger werden möchte, für den Geschlechtsverkehr die Knie-Ellenbogen-Position. Und diese Patientin setzt sich hin und schreibt an das städtische Gesundheitsamt, die Ärztin M. J. Kogan propagiere im Auftrag des zionistischen Untergrunds bourgeoise sexuelle Ausschweifungen und nähme obendrein zuhause verbotene Abtreibungen vor.

Kurzum: Nicht nur, dass Maria Jakowlewna im Fall des Falles selbst nicht gewusst hätte, wie sie es ihrem Pjotr Romanowitsch sagen sollte, und vor Scham vergangen wäre, sie hatte auch schlichtweg Angst vor dieser Lena. 

Irgendwann, wenn auch nicht gerade in der ersten Nacht nach der Konsultation bei Maria Kogan, überwand sich Lena dann doch, das unanständige Wort auszusprechen. Sie flüsterte es Grigori Semjonowitsch so leise ins Ohr, dass er nichts verstand und zurückfragte. Da sprach die junge Frau in ihrer Bedrängnis das Unaussprechliche fast schon in normaler Lautstärke aus. Vera Petrowna auf der knarrenden hölzernen „Couch“ drehte sich geräuschvoll um. Grischa aber verlor vor Verblüffung die Selbstkontrolle und begann – ebenfalls ziemlich laut – seine Frau auszufragen. Lena schilderte ihm Maria Jakowlewnas Erläuterungen, und die beiden machten so viel Krach, dass Vera Petrowna aufstand und mit dem Nachttopf schepperte. Da verstummten die Eheleute Kusnezow, lagen reglos da, schliefen bald vor lauter nervlicher Anspannung unverrichteter Dinge einfach auf dem Fußboden ein und erwachten erst vor dem Morgengrauen, gerade noch rechtzeitig, um Matratze und Decke auf das Bett zurückzulegen. 

Doch bereits in der nächsten Nacht ergriff Grigori Semjonowitsch, der das Gehörte im Großen und Ganzen verinnerlicht hatte, die Initiative. Er musste seine recht kräftigen, besser sehnig zu nennenden Hände einsetzen, um Lena zu jener Stellung zu verhelfen, die vom medizinischen Standpunkt aus hinreichend und notwendig war. Es dauerte eine Weile, bis er sich, über sie gebeugt, selbst in Positur gebracht hatte, doch dann klappte alles, und Grigori Semjonowitsch erlebte zu seinem größten Erstaunen nie gekannte Lust. Sein neues Glück trübte einzig und allein ein Stoß mit dem Hinterkopf gegen die durch den neuartigen Liebesakt näher gerückte Unterseite der Tischplatte. In der Folgezeit lernte er aber, vorsichtiger zu sein. 

Als bei seiner Frau die Periode eine Woche, dann einen Monat ausblieb, konnte es keinen Zweifel geben. Die Kusnezows kauften Maria Jakowlewna ein Fläschchen ihres geliebten Parfüms „Krasnaja Moskwa“ und warteten. 

Wie gut, dass Maria Jakowlewna ihren guten Rat noch rechtzeitig an den Mann, sprich: an die Frau gebracht hatte, denn es hätte auch zu spät sein können. Nicht lange, nachdem Lena schwanger geworden war, verschwand zuerst Pjotr Romanowitsch Kogan – er kam nach der Schicht in der Poliklinik nicht nach Hause zurück –, und bald darauf zog die gesamte Kogan-Sippe aus der Baracke aus.

Zweites Kapitel

Die Biografie des Rentners S. G. Kusnezow in seinen Erinnerungen während der Fahrt in einem Vorortbus der Linie 254

Seither sind etwas mehr als siebzig Jahre vergangen. 

Wobei im Hinblick auf die Zeit eine gewisse Unstimmigkeit einzuräumen ist, denn entweder haben sich von irgendwoher einige – ungefähr sechs – überzählige Jährchen hinzugesellt oder diese sechs Jahre sind irgendwie abhandengekommen. Keine Angst, zu gegebener Zeit werden wir den Lapsus klären. So gut es geht, angesichts unserer Vorliebe für Hintergründiges und Nebulöses. 

Bis auf Weiteres aber nehmen wir einfach an, dass reichlich siebzig Jahre vergangen sind,

Sergej Grigorjewitsch Kusnezow in einem Vorortbus sitzt, und dabei gewohnheitsmäßig abwechselnd döst und denkt.

Wie fast alle Menschen, die sich in öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegen, dachte S. G. Kusnezow an Vergangenes. Nur junge Leute denken bei solchen Fahrten an Gestriges: wo und mit wem, was und wie viel. Fahrgäste mittleren Alters denken an dasselbe, bloß liegt es bei ihnen bereits fünf oder zehn Jahre zurück. Auch alten Leuten geht, wie man zugeben muss, bei derartigen Gelegenheiten allerhand Unsinn durch den Kopf, aber aus fernen, längst verflossenen Zeiten, denn an Gestriges erinnern sie sich überhaupt nicht, und vor fünf oder gar zehn Jahren war ihr Dasein haargenau wie heute, weil die letzten Jahre so schnell vorübergehuscht sind. 

Sergej Grigorjewitsch Kusnezow zählte zweifellos zu den Alten, ging er doch, wie es so schön heißt, auf die achtzig zu. Kusnezow selbst konnte die Floskel „auf die achtzig zugehen“ nicht ausstehen, ihm schien darin eine verlogene Munterkeit mitzuschwingen, wo diesem achten Lebensjahrzehnt doch in Wirklichkeit keinerlei rüstige Courage innewohnt, da braucht man sich gar nichts vorzumachen. 

Ein reichlich siebzigjähriger alter Mann zu sein ist, das will ich Ihnen sagen, meine Herrschaften, eine durch und durch trübsinnige Angelegenheit, die hauptsächlich aus Krankheiten und deren erfolgloser, aber kostspieliger Behandlung besteht. 

Allerdings tat S. G. Kusnezow in der Zeit, die ihm Krankheiten und Behandlungen ließen, noch einige andere Dinge, die sich im Grunde nicht von den Beschäftigungen seines ganzen Lebens unterschieden. Hatte er doch auch früher am Schreibtisch gesessen, den Ellenbogen aufgestützt und die Wange in die Handfläche gelegt wie für ein typisch provinzielles Foto, hatte vor sich hin gestarrt und überlegt, wie er das, worüber er gerade sinnierte, möglichst knapp – langatmig schreiben wollte er nicht – zu Papier bringen konnte. Nicht zu Papier, genauer gesagt, denn bei Sergej Grigorjewitsch Kusnezow handelte es sich um einen Greis, der mit der Zeit ging (ja sogar den englischen Ausdruck up to date kannte) und seit zwanzig Jahren den Computer benutzte. 

Überhaupt hatte er zwei Dissertationen auf dem Gebiet der technischen Wissenschaften verfasst, war Professor, Autor von etwa eintausend Artikeln in nationalen und internationalen Fachzeitschrif­ten sowie elf Büchern (bei zwei Werken firmierte er als Mitautor), darunter eines, das vom Bildungsministerium als Standardlehrwerk für Technische Hochschulen eingestuft wurde. Es behandelte Probleme des Materialwiderstands.

Jetzt aber, zehn Jahre nachdem ihn die Kollegen in der Aula feierlich mit Blumen, die er noch nie mochte, und völlig unnützen Geschenken zur Erreichung des Pensionsalters beglückwünscht hatten, gehörte er immer noch zur Professorenschaft desselben – nun jedoch unsinnigerweise in Universität umbenannten – Instituts. Und das nicht nur pro forma, schließlich hielt er jede Woche drei Vorlesungen – zwei am Montag, eine am Donnerstag –, nahm stets an den Lehrstuhlsitzungen teil, publizierte regelmäßig einen, manchmal auch zwei Beiträge in den akademischen Jahresbänden. 

Aus dem oben Gesagten folgt, dass Professor Kusnezows Kollegen ausgesprochene Menschenfreunde und mitfühlende Seelen sein mussten, hatten sie ihn doch nicht sofort nach seinem sechzigsten Geburtstag am Schlafittchen gepackt und in das Rentnerdasein befördert, um sich hernach blitzschnell die vakant werdende Professorenstelle – sie fiel stets dem Fixesten zu, so spielte das Leben eben – unter den Nagel zu reißen. Möglicherweise resultierte die Nachsicht auch daraus, dass bereits keiner mehr ein Professorengehalt brauchte, das in diesen Jahren nur noch für ein Hungerleiderdasein reichte. Die Fixesten, die einander in früheren Zeiten für eine Professur an die Gurgel gegangen wären, verließen jetzt das Land, das seine Grenzen geöffnet hatte und seine Professoren nicht mehr liebte. Was diese ihm mit gleicher Münze heimzahlten, denn Liebe kann nur gegenseitig sein, alles andere ist bloße romantische Fantasterei. Einige starke Ellenbogen brauchten die Staatsgrenzen auch gar nicht zu überschreiten, sie richteten sich bestens ein in ihrem eigenen, nun ganz anders gewordenen Land. Dort gab es zwar fast keine Professoren mehr, dafür vermehrten sich Erdölhändler, Developer für Elite-Immobilienprojekte, Wiederverkäufer und Besitzer von Kontrollaktienpaketen wie Pilze in einem feuchten Sommer. Die Fähigkeit zu wissenschaftlichem, logisch-analytischem Denken kam ihnen auch bei Pfandauktionen außerordentlich zupass. 

Und die neuen Professoren, die trotz allem noch in die Wissenschaft strebten, waren geradezu unanständig jung. So jung, dass einer von ihnen in der warmen Jahreszeit in Shorts mit riesigen Blasebalgtaschen zu den Lehrstuhlsitzungen erschien und das versammelte Kollegium mit seinen dünnen, stark behaarten nackten Beinen in Verlegenheit brachte. Dabei war er, das muss ihm der Neid lassen, ein ernsthafter Wissenschaftler, Mitglied mehrerer ausländischer Akademien und Ehrenprofessor der Universität Cambridge. Hätte er einmal in seinem Cambridge ohne ordentliche Hosen herumlaufen sollen! 

Kurzum, niemand stänkerte gegen Sergej Grigorjewitsch Kusnezow. Und das möglicherweise nicht nur, weil er keinen störte, sondern auch aus echtem Mitgefühl, aus Sympathie für den harmlosen Alten. Nicht auszuschließen, dass die gewohnheitsmäßige Achtung vor seiner Erfahrung, seiner Stellung und seinem Beitrag zur Wissenschaft der Materialien und ihrer Widerstände gleichfalls eine Rolle spielte. 

Und nun fuhr Professor Kusnezow, weil Montag war, mit dem Bus aus der Stadt in den nahe gelegenen Vorort, wo sich das renommierte Institut befand, um zwei Vorlesungen zum Thema Materialwiderstand zu halten. Heute für die Studenten des zweiten Studienjahres, während er am Donnerstag vor dem dritten Studienjahr über die Grundlagen der Elastizitätstheorie referierte. 

In diesem Institut, das er partout nicht Universität nennen mochte, hatte Sergej Grigorjewitsch fast sein gesamtes nun bereits recht langes Leben verbracht. Natürlich mit Ausnahme jener Zeit, als er noch nicht auf der Welt war, weshalb diese Spanne auch im ersten Kapitel beschrieben wurde, weil der Held nichts aus eigener Anschauung zu ihrer Beschreibung beitragen kann. Und vielleicht noch mit Ausnahme seiner frühen Kinderjahre in ebenjener Baracke. Aber an diese Kindheit mit dem schrillen Kreischen der Frauen, wenn wieder einmal eine Ratte über den Flur huschte, und dem Gestank der qualmenden Öfen, diese Kindheit in dem einzigen, ewig umgearbeiteten, angesetzten und geflickten Skianzug und den ständig auseinanderfallenden Schuhen erinnerte sich der Professor nur ungern. Zudem hatte sie überhaupt nicht lange gewährt, denn als er sechs war und im Herbst eingeschult werden sollte, ändert sich alles: Beim Baden im Fluss, der etwa zweihundert Meter hinter den Baracken floss, ertrank sein Vater Grigori Semjonowitsch Kusnezow, Chefkonstrukteur eines Nomenklatur-Projektes in einer Hochsicherheitsinstitution namens „PF 2013“. An einem heißen Juli-Sonntag, als sich jede Menge Leute am Ufer tummelten und alle hören mussten, wenn jemand um Hilfe schrie. Außerdem war er ein guter Schwimmer, das Flüsschen an dieser Stelle seicht. Aber er ging unter, ertrank, und als man gegen Abend sein Verschwinden bemerkte, fand man nicht einmal mehr die Kleidung. In der Tasche der Sommerhose hatte der Ausweis gesteckt, und viel Geld, fast der gesamte Lohn, der am Freitag ausgezahlt worden war. Da mussten Diebe zugegriffen haben.

In die Baracke kamen ein paar Leute von der Miliz, danach erschien noch ein Mann in einem hellen Anzug aus festem Tuch und redete lange mit Jelena Kusnezowa, nunmehr Witwe Grigori Kusnezows, während Sergej zum Spielen nach draußen geschickt wurde. Er machte Anstalten, vom Korridor aus an der Tür zu lauschen, erhielt jedoch von einem vorübergehenden Nachbarn einen Tritt in den Hintern und den guten Rat, sich nicht in Erwachsenenangelegenheiten einzumischen. 

Eineinhalb Jahre später, als Sergej bereits die erste Klasse beendet hatte, heiratete seine Mutter Nikolai Iwanowitsch Senin, der ebenfalls im „PF 2013“ arbeitete und eng mit Grigori Kusnezow befreundet gewesen war. Nun ehelichte der vierzigjährige Junggeselle Jelena Kusnezowa, was allgemeine Billigung fand, hieß es doch: Er nimmt sich der Hinterbliebenen seines Freundes an. Die kleine Familie – bereits ohne die Oma – zog in das Haus für verdienstvolle Mitarbeiter, von dem sich Grigori Semjonowitsch so lange eine Verbesserung seiner Wohnverhältnisse erhofft hatte. Das Haus war zum Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November übergeben worden, und Genosse Nikolai Iwanowitsch Senin erhielt darin eine Zweizimmerwohnung, wobei auch die Tatsache, dass Jelena Seninas verstorbener erster Mann lange Jahre zur Belegschaft des Werkes „PF 2013“ zählte, eine Rolle gespielt haben dürfte. 

Sergej hätte es sich jetzt also gut gehen lassen können, denn er
hatte ein Zimmer für sich, während in dem zweiten, größeren, mit Balkon, die Mutter und Senin wohnten. Letzterer erlaubte dem Stiefsohn, ihn Onkel Kolja zu nennen, nur in Gegenwart fremder Leute musste Sergej „Papa“ sagen. 

Mehrere Ereignisse führten allerdings dazu, dass Sergej Kusnezows Kindheit unwiderruflich endete. Erstens gab ihm Senin den eigenen Familiennamen, den Sergej dann – wie wir hier vorauseilend vermelden wollen – bis zum achtzehnten Lebensjahr trug. Dabei redete Sergej den Stiefvater zuhause auch weiterhin mit Onkel Kolja an, in Anwesenheit anderer Leute versuchte er ihn nach Möglichkeit überhaupt nicht anzureden. Zweitens wurde Jelena ungefähr zwei Monate nach der Heirat mit Nikolai Senin unförmig dick, und weitere drei Monate später brachte sie Sergejs Bruder Igor zur Welt. Das Brüderchen schrie nächtelang jämmerlich auf dem Arm der Mutter oder des Vaters, die – das Baby sachte halb schaukelnd, halb schüttelnd – quer durch ihr großes Zimmer liefen und manchmal, wenn ihnen im Gehen die Augen zufielen, gegen den Tisch oder einen Stuhl stießen. Auf dem Fußboden lagen in Erwartung des morgendlichen Waschgangs zusammengeknüllte, mit etwas Gelblich-Grünem verschmierte Windeln, und in der ganzen Wohnung stank es fürchterlich. Alles endete damit, dass Jelena Sergej eines Tages dabei ertappte, wie er mit einem Hammer in der Hand an Igors Bettchen stand. Der kleine Bruder war gerade eingeschlafen, Sergej betrachtete ihn nachdenklich und umklammerte dabei den Hammerstiel so fest, dass ihm die Mutter das gefährliche Werkzeug kaum entreißen konnte. Drittens musste genau eine Woche nach diesem entsetzlichen Vorfall – von dem Jelena ihrem Mann natürlich nichts erzählte – Sergejs ganze Klasse in die Poliklinik des Stadtteils zur Fluorografie, bei der in beiden Lungenflügeln des Jungen ausgedehnte Verschattungen entdeckt wurden. Sergej Senin, Alter: vollendete 8 Jahre, erhielt sofort eine Überweisung in die Waldschule für tuberkulosekranke und geschwächte Kinder. Am Abend beratschlagten Jelena und Senin, ob sie den Sohn dorthin schicken sollten, wo sich Sergej, wenn er jetzt vielleicht noch keine Tuberkulose hatte, todsicher anstecken würde. Sie besprachen das Für und das Wider, und der Stiefvater riet ab, während Sergejs Mutter entschieden für die Waldschule war. Als nichts mehr half, senkte sie die Stimme zu einem Flüstern und erzählte Senin von dem Hammer. 

Nach alter schlechter Gewohnheit hatte Sergej bereits die ganze Zeit über gelauscht, jetzt aber wandte er einen Trick an, auf den er in einem Buch gestoßen war: Er presste nicht mehr nur das Ohr an die Trockenputzwand, sondern hielt noch ein heimlich aus der Küche geholtes Wasserglas dazwischen, sodass er jedes einzelne Wort verstand. Als seine Mutter dann überhaupt nur noch kaum hörbar wisperte, erriet er einfach, wovon die Rede war. Er beschloss, in das Zimmer zu gehen und ihnen zu sagen, er wolle selber in die Waldschule, doch da sprach Senin etwas aus, das Sergej buchstäblich zusammenzucken und fast das Wasserglas fallenlassen ließ. 

„Abgehauen“, sagte Senin. „Grischa ist abgehauen, und der da hat denselben Charakter … so verschlossen … ganz wie Grischa. Wenn der aus der Waldschule türmt, finden wir ihn nicht wieder.“

Der Familienrat hatte am Abend getagt, deshalb endete die Diskussion bald darauf, und alle legten sich schlafen, oder besser: gingen zu Bett, um im Liegen nachzudenken, mehrmals aufzustehen und Wasser aus dem Teekessel zu trinken, Igor frisch zu wickeln, miteinander zu flüstern und aus dem Fenster zu schauen, wo in der Nähe eine Leuchtschrift die Vorzüge von Sparkassen pries.

Sergej kannte sich für sein Alter ziemlich gut aus mit den Problemen und Kollisionen des Erwachsenenlebens, die Baracke hatte ihn allerhand gelehrt. Deshalb verstand er mühelos, was Senin meinte, begriff zumindest, dass sein Vater Grigori Kusnezow nicht in diesem Planschbecken von Fluss ertrunken war, sondern ihn und die Mutter verlassen hatte. In der Baracke waren ihm in den Gesprächen der Erwachsenen, besonders der Frauen, Worte zu Ohren gekommen wie „im Stich gelassen“, „zu diesem Flittchen gegangen“, „nicht mehr bei der Familie“, deren Sinn er, wie ihm schien, richtig deuten konnte. Denn beispielsweise war das Familienoberhaupt der Jurassows, die in ihrem Schuppen Schweine mästeten, vor drei Jahren ebenfalls „zu einem Flittchen gegangen“. Zuvor aber hatte Jurassow, ein alter Zausel von vierzig oder sogar mehr mit kahlgeschorenem, von Schrammen überzogenem Schädel und einem klobigen Holzstumpf statt des linken Unterschenkels, ein Saufkopf, der winters wie sommers in einem schmutzigen Unterhemd herumlief, im Winter mit einer Pelzjoppe darüber, im Sommer ohne Pelzjoppe, dafür schlabberte das Hemd dann über der Hose, hatte dieser Jurassow also seltsame, ja entsetzliche Dinge getan. 

Eines Abends kam er betrunken nach Hause, was absolut normal war und jeden Abend geschah. Doch diesmal erschien er nicht allein, sondern in Begleitung eines unbekannten Mannes, der ebenfalls eine Pelzjoppe trug. Torkelnd und stolpernd begaben sich die beiden schnurstracks in den Schuppen, wo Jurassow mühsam seinen Stumpf abschnallte und zur Seite stellte, sich hinkniete, die Rüssel der Schweine küsste, dann aufstand und in die Baracke ging. Gleich darauf schallte schauerliches Quieken über den ganzen Hof. Keine zehn Minuten später hatte der Unbekannte den Schuppen verlassen und sich – ganz nach Meuchelmördermanier – in unbekannte Richtung aus dem Staub gemacht. 

An und für sich stellte die Tatsache, dass die Schweine umgebracht worden waren, nichts Besonderes dar, schließlich wurden sie jedes Jahr abgestochen und die Fleischbatzen auf dem Markt verkauft, wonach die Jurassows regelmäßig neue Ferkel anschafften. Die Zerlegung des Fleisches erfolgte in der Gemeinschaftsküche, die die Signatulins und die Kogans an diesem Tag nicht betraten. Spätnachts schrubbten die jüngsten Signatulin-Kinder dann die gesamte Küche mit heißem Wasser und beißend riechender Kernseife. Doch diesmal war alles unnormal und furchtbar: der alte Jurassow, der im Mist kniete und die Rüssel der Schweine küsste, der unbekannte Kerl, das Schweineschlachten zur falschen Zeit, und dass das Fleisch nicht sofort mit einem Beil und großen Messern zerlegt wurde. Vielmehr ging Jurassow, lauter als sonst mit seinem Holzstumpf aufstampfend, in das Zimmer der Familie, wo sofort noch verzweifeltere Schreie als zuvor im Schuppen ertönten. Fünf Minuten später kam Jurassow heraus, in der Hand den kleinen Soldatentornister, mit dem er aus dem Krieg heimgekehrt war, und ging zur Tür, die vom Flur in den Hof führte. Seine Frau Nadka Jurassowa – noch zerzauster als üblich, nur ein Hemd über dem bloßen gelblichen Körper – lief hinter ihm her und kreischte etwas Unverständliches. Ohne zu antworten trat Jurassow auf den Hof hinaus, humpelte bis zur Ecke der Baracke, von wo er laut den Satz „Ich will noch ein bisschen leben!“ vernehmen ließ, so als hätte man ihn und nicht die Schweine ermorden wollen. Dann verschwand er für immer. Nadka aber verkaufte das im Schuppen zwischen großen Eisbrocken unter Stroh aufbewahrte Schweinefleisch auf dem Markt, suchte sich eine Arbeit beim Wach- und Sicherheitsdienst des Instituts, das durch einen Ziegelstein-Zaun vom benachbarten Park abgegrenzt war, gab Wowka, ihren Ältesten, in eine Handwerksschule und brachte die beiden Jüngsten von nun an allein durch. In der Baracke sagten die Frauen, Jurassow, dieser Schuft, sei zu seinem Flittchen gegangen, während die Männer gar nichts sagten, sondern nur noch mürrischer dreinblickten. 

Die Erinnerung an Jurassows Abgang und die quiekenden Schweine hatte Sergej von Senins Worten über seinen Vater abgelenkt, doch als er dann mitten in der Nacht erwachte, fielen sie ihm wieder ein, und er fand bis zum Morgen keinen Schlaf, schaute aus dem Fenster, hinter dem über der erloschenen Sparkassen-Leuchtschrift und dem ebenfalls sechsstöckigen Nachbarblock rosa-graues Dämmerlicht immer weiter auseinanderfloss. Er konnte einfach nicht begreifen, ob sein Vater nun zu einem Flittchen gegangen war oder nur nicht mehr bei der Familie lebte. 

Am Morgen, als er den letzten Schluck Kakao mit den cremefarbenen faltigen Milchschaumstreifen ausgetrunken hatte, erklärte Sergej, er wolle in die Waldschule. Und versetzte auf Senins verwunderte Frage nach dem Warum, er müsse von der Tuberkulose geheilt werden, denn daran könne man sterben, und in der Waldschule sei es gut, würden die Jungs sagen, dort gäbe es sogar einen Fotozirkel, man dürfe sich eine Schmalfilmkamera ausleihen und fotografieren, was man wolle, und ein Vergrößerungsgerät hätte der Zirkel auch.

Zwei Tage später brachte Senin den Stiefsohn in die Waldschule, sie fuhren mit der Vorortbahn und dem Bus. 

Seitdem wohnte Sergej nicht mehr zuhause. 

In der Waldschule begeisterte er sich anfangs tatsächlich sehr für das Fotografieren, doch dann bemerkte Dmitri Mironowitsch, der Physik- und Mathematiklehrer, dass der Junge in diesen Fächern außergewöhnlich befähigt war, und gab ihm nach der Schule Einzelunterricht. Deshalb fehlte Sergej die Zeit für den Fotozirkel, außerdem war sein Interesse erlahmt. Aufgaben in Algebra, Geometrie, Trigonometrie und Physik zu lösen machte ihm hingegen riesigen Spaß, das Lehrprogramm der Mittelschule in diesen Disziplinen absolvierte er bereits zu Beginn der siebenten Klasse und konzentrierte sich danach auf Russisch und Literatur, wo er es gerade einmal zu mittelmäßigen Noten brachte, weil ihm das eine wie das andere Fach absolut gleichgültig war. Er wollte nicht einsehen, warum man Worte völlig anders schreiben musste als sie klangen und was interessant sein sollte an gereimten und ungereimten Geschichten über Menschen, die nie gelebt hatten, über Jagden, über Bälle – davon fehlte ihm jegliche Vorstellung – oder über die unvermeidliche, allenthalben aufkommende Liebe. Der Sinn dieser Liebe erschloss sich ihm nicht, er brachte sie weder mit dem Jurassow’schen Abgang zu einem Flittchen noch mit der Beziehung zwischen seiner Mutter und Senin oder der Geburt des Bruders Igor in irgendeine Verbindung. Auch nicht mit dem, worüber seine Klassenkameraden abends vor dem Schlafen redeten, was sie unter den Bettdecken oder in der Toilette trieben. Diese banalen Dinge betrachtete er als völlig alltäglich, so gewohnt wie die Kohlsuppe und die papierdünnen Fleischklopse in der Schulkantine mitsamt den großen Butterstücken, die den kranken Kindern zustanden, ebenso wie er früher das Leben in der Baracke und das morgendliche Schlangestehen vor den Bretterlatrinen im Hof als ganz normal wahrgenommen hatte. Gegen seine Mitschülerinnen empfand er Abneigung, weil er spürte, dass gerade dieser Firlefanz – den sie „Dummheiten“ nannten, wenn sie sich bei der Erzieherin Soja Pawlowna darüber beschwerten, von den Jungs „begrabscht“ worden zu sein – die Mädchen brennend interessierte. Über Soja Pawlowna hatten die Jungen einen Vers geschmiedet, den sie gern auf dem Schulhof zum Besten gaben: „Soja, Soja, treibst es gern im Stehen, oh ja!“ Was die Mädchen wiederum petzten, woraufhin es drastische Strafen setzte. 

Kurzum, all das war Sergej Senin nicht nur vollkommen gleichgültig, sondern, unumwunden gesagt, widerlich, erinnerte es ihn doch an das Quieken der umgebrachten Jurassow’schen Schweine. Dagegen waren Quadratgleichungen, Gleichungen noch höheren Grades, Projizierungen geometrischer Körper auf Flächen, Kraftvektoren oder wenigstens die Gesetze der Überlagerung von Schwingungen unterschiedlicher Frequenzen doch etwas ganz Anderes. Etwas Schönes, Sauberes, Ruhiges. Etwas, das nichts zu tun hatte mit den ebenso selten wie nachlässig gereinigten Toiletten und dem Spottvers über Soja Pawlowna, mit Stiefvater Senin, der jetzt wahrscheinlich neben der Mutter im Bett lag, eine Hand hinter den Kopf geschoben und die haarige Achselhöhle entblößt.

Dmitri Mironowitsch setzte sich erfolgreich dafür ein, dass Sergej – dessen Röntgenbild zu dieser Zeit keinerlei Verschattungen mehr aufwies – nach der siebenten Klasse in eine Spezialschule kam. Sie gehörte zu einem berühmten Institut, wo sämtliche Studenten mathematische Genies und die Lehrer durchweg Akademiemitglieder waren und das sich in ebenjenem Stadtrandviertel befand, in dem der Junge seine Barackenkindheit erlebt hatte. Sergej erhielt einen Platz im institutseigenen Internat, in dem nicht nur Studenten und Schüler, sondern auch einige Lehrer wohnten. In dieser Schule erwarb er innerhalb von drei Monaten die Hochschulreife – sogar mit Zweien für Russisch und Literatur, denn die hervorragenden Lehrer in sämtlichen Fächern verstanden es, wenn nötig, individuelle Hilfestellungen zu geben – und wurde Student. 

Zu dieser Zeit war er bereits seit mehreren Jahren Vollwaise. 

Üblicherweise hatten ihn die Mutter und der Stiefvater jede Woche in der Waldschule besucht, doch in der fünften Klasse erschien Senin eines Tages allein und sagte, die Mutter sei krank. In der darauffolgenden Woche kam überhaupt niemand, nur ein Anruf beim Direktor, in dem der Stiefvater darum bat, ausnahmsweise den Schüler Sergej Senin ans Telefon zu rufen. Sergej erfuhr, dass seine Mutter im Krankenhaus lag. Einen Monat später besuchte ihn Senin erneut und sagte, die Mutter sei immer noch im Krankenhaus, sie wolle ihn sehen. Sergej erhielt für zwei Tage frei. Er stand am Bett der Mutter und betrachtete verwundert die fast zum Skelett abgemagerte alte Frau mit der gelblich-wächsernen Haut, den dünnen, in wirren Strähnen über das Kissen fließenden Haaren und der knöchernen Stirn. Die Mutter hielt wortlos seine Hand, Sergej saß neben ihr auf dem Bettrand und schwieg ebenfalls. 

Nach dem Tod der Mutter erschien Senin zunächst einmal im Monat, dann seltener und mit immer unverkennbarerer Wodka-Fahne, bis er sich schließlich überhaupt nicht mehr sehen ließ. Sergej durfte allein zu einem Besuch nachhause – der Junge ging ja bereits in die sechste Klasse – und kam nach einem halben Tag Fahrt in dem sechsstöckigen Neubaublock an. Die Wohnungstür stand offen, Senin lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa und schlief, obwohl Mittag und Arbeitszeit war. In der Küche, wo fast überall leere Flaschen auf dem Fußboden herumstanden, fütterte eine dicke junge Frau in einer Satin-Kittelschürze Igor mit Bratkartoffeln und Wurst und sah aufmerksam zu, wie der Junge aß. Sie fragte: „Bist du Sergej?“, dann: „Willst du auch Bratkartoffeln?“ Sergej schüttelte den Kopf, ging wortlos hinaus und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. 

Ein halbes Jahr später erfror Nikolai Iwanowitsch Senin in betrunkenem Zustand nachts vor dem Hauseingang.

Kurzum, als Sergej Senin mit fünfzehn Jahren ein Studium an dem berühmten Institut aufnahm, hatte er keine Angehörigen mehr außer seinem Bruder Igor, von dem niemand wusste, wohin ihn die dicke junge Frau mitgenommen hatte und ob er überhaupt noch lebte. Igor galt als vermisst, „abgängig, ohne Anhaltspunkte zum Verbleib“, hieß es in den Akten, überhaupt waren alle in Sergejs Familie, wenn sie nicht überraschend starben, ohne Anhaltspunkte zum Verbleib entschwunden. 

In der Folgezeit verlor Sergej das Wohnrecht für die Zweizimmer­wohnung in dem sechsstöckigen Neubau. Er war ja minderjährig, außerdem hielt er sich dauerhaft anderenorts auf. 

Sergej Senin wohnte im Wohnheim und lebte von dem Stipendium, das sämtliche Studenten des Instituts bezogen. Es war doppelt so hoch wie die normalen Stipendien, als Waise brauchte er auch keine Miete für den Internatsplatz zu bezahlen und kam deshalb sehr gut über die Runden. Kumpane, mit denen man in den Studentenjahren üblicherweise trinkt, hatte Sergej nicht, er spielte weder Préférance noch Schach, und auch Sport – nämlich Langstreckenlauf – trieb er allein. Der Student Sergej Senin stand allen und allem absolut fern, was nicht Materialwiderstand oder eine noch grundlegendere Disziplin dieser Gruppe wie etwa Theorie der Elastizität oder Theorie der Plastizität war. 

Nicht, dass er seine Kommilitonen bewusst gemieden hätte, eher interessierten sie sich nicht besonders für ihn. Viele Studenten des seinerzeit – trotz der strengen Geheimhaltungsregeln – wahrscheinlich berühmtesten Instituts kamen aus Wissenschaftlerfamilien, die Koryphäen hervorgebracht hatten, und das nicht nur in einer Generation. Was sie konnten und wie sie erzogen waren, zeigten die Söhne und Töchter aus gelehrtem Hause im Studium ebenso wie in der Freizeit. Freie Zeit aber blieb Sergej einfach nicht, denn nach dem Unterricht las er Lehrbücher oder Monografien und legte in einer Prüfungsperiode zusätzlich noch die Examen für das nächste, ja mitunter sogar schon das übernächste Semester ab. Sie hingegen lasen modische Romane in beliebten Literaturzeitschriften, schrieben Lieder, die sie zur Gitarre sangen, kannten jede Menge Gedichte – auch verbotene – auswendig, hörten nachts ausländische Radiosender und erzählten morgens Witze. Sergej war ihnen nicht nur gleichgültig, sondern regelrecht unsympathisch. Sie schienen den besonderen Geruch wahrzunehmen, der von ihm ausging, den Mief der Baracke, den Sergej seit seiner Kindheit nicht loswurde, obwohl er jeden Tag zwei Mal duschte und im Unterschied zu etlichen Kommilitonen aus Wissenschaftlerfamilien niemals betrunken ins Bett fiel, ohne sich die Zähne geputzt zu haben, denn er trank einfach nicht.

Dabei lagen jene Barackenjahre so lange zurück. Seine Familie wohnte in einer anständigen Wohnung, er ging in die Waldschule, wo allerdings auch ein gewisser Barackengeist herrschte. 

Dass ihn die Kommilitonen hinter seinem Rücken „Hegemon“ nannten, wusste Sergej, und es machte ihm nichts aus. Ehrlich gesagt hatte er trotz erfolgreich abgelegter Prüfungen in den weltanschauli­chen Disziplinen – Geschichte der KPdSU, Politökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus sowie marxistisch-leninistische Philosophie – keine klare Vorstellung, was ein Hegemon war. 

Als Sergej nicht wie die anderen Studenten mit zweiundzwanzig, sondern bereits mit achtzehn Jahren und dazu noch mit lauter Einsen – sogar in Englisch, das er hasste! – sein Studium abschloss, bekam er die Stelle eines Wissenschaftlichen Assistenten am Lehrstuhl für Materialwiderstand angeboten. Er konnte sich nichts Besseres vorstellen, obendrein durfte er als Lediger im Wohnheim bleiben und hatte das Zimmer jetzt sogar für sich allein. Es war damit zu rechnen, dass Sergej Senin – richtiger: Sergej Kusnezow, hatte er doch zu dieser Zeit nach einem langwierigen bürokratischen Kleinkrieg wieder den Namen des leiblichen Vaters angenommen, was seine Kollegen nicht wenig verwunderte –, dass dieser Sergej Kusnezow also in allerhöchstens fünfzehn Jahren mindestens Korrespondierendes Akademiemitglied im Bereich Technische Wissenschaften oder aber Physik und Mathematik sein würde. 

Doch dann geschah mit ihm etwas Unerklärliches. Oder doch Erklärliches, wenn man den Umstand ins Kalkül zieht, den wir eingangs bereits in einer nebulösen Andeutung erwähnten und zu gegebener Zeit aufzuklären versprachen, nämlich die gewisse zeitliche Ungereimtheit in Sergej Kusnezows Biografie. Entweder muss Kusnezow sechs Jahre früher zur Welt gekommen sein als die Geburtsurkunde und unsere Darstellung ausweisen, oder viele der hier im Präsens geschilderten Ereignisse spielen sich tatsächlich erst in der Zukunft ab. Wobei die zweite Variante wahrscheinlicher sein dürfte, werden doch einige absolut phantastische Dinge unter vollkommen irrealen Umständen geschehen. In der Zukunft aber ist alles möglich … 

Doch davon später. 

Jetzt soll es erst einmal um die Absonderlichkeiten der frühen Jugend unseres Protagonisten gehen.