Roman von Anton Utkin
aus dem Russischen von Sabina Rothpuller
Moskau in den „wilden“ 90er Jahren. Pavel stammt „irgendwoher aus dem Kaukasus“. Seit kurzem lebt er in Moskau: als Geschäftsmann mit großem Auto und Chauffeur, als „neuer Russe“.
Für einen glanzvollen Auftritt in der Moskauer Gesellschaft braucht er aber auch Bildung. Daher will er von seinem Freund Pjotr, dem Geschichtsstudenten alles Notwendige über Literatur und Kunst erfahren: Er soll ihm erzählen, was die großen Meister der russischen Literatur geschrieben haben.
Denn lesen will Pascha nicht.
So begleitet Pjotr seinen Freund durch das schicke Moskauer Nachtleben, die Kunst-,
Theater- und Filmszene. Er erzählt von den Helden der Literatur und Pavel sucht in diesen Geschichten Sinn und Vorlagen für sein Leben, tritt als Mäzen und Wohltäter, als Verehrer und Gentleman auf: In seinem naiven Weltbild gibt es keinen Unterschied zwischen der Kunst und dem Leben.
Der plötzliche Tod von Pavels Bruder, dem Drahtzieher lukrativer Geschäfte, verändert seine Perspektiven …
208 Seiten, gebunden mit Umschlag
ISBN: 978-3-9501769-0-2,
Euro 15,00
Leseprobe
Vor einigen Jahren, ich hatte mein Studium noch nicht beendet, begann ich, für ein Zeitgeistmagazin zu schreiben, das mit so anmaßenden Slogans wie „Sie haben den Überblick“ erschien. Dazu muss man aber einschränken, dass niemand auch nur den geringsten Überblick hatte, weder damals noch später. Ehemalige Schüler und Militärs im Ruhestand, kaufmännische Angestellte und Bauleiter, die plötzlich zu mächtigen Wirtschaftsbossen mutierten, Diebe ohne jede Berufsehre, zweifelhafte Paten und überzeugte Hausfrauen kamen über Nacht zu Vermögen. Die Stadt wurde fieberhaft restauriert und in den mit Graffitti besprühten Stiegenaufgängen begann es, nach getrocknetem Hanf zu riechen.
Das schnelle Geld verdrehte allen den Kopf und nicht nur denen, auf die es als unerwarteter wohltuender Regen niederging. So leicht es einem in den Schoß fiel, so leicht wie Rauch verflüchtigte es sich auch wieder. Man sah ihm zerstreut lächelnd nach und trauerte nicht allzu sehr darum.
Alles schien möglich, man brauchte nur die Hand auszustrecken.
Die Küche, unsere Moskauer Küche – dieser „Privatklub“ während der Jahre der Stagnation, das Parlament unserer Jugendzeit, dieser Mittelpunkt des geistigen Lebens – verwandelte sich plötzlich in einen langweiligen Raum für die Zubereitung von Speisen. Die Aromen versteckter Freiheit, würzige, aufregende Aromen von Offenbarungen, mystischen Emanationen, Gedanken- und Seelenflügen mussten den Gerüchen importierter Fertiggerichte weichen; und unser geheiligter Tee wurden nun direkt in Hefen zubereitet, die ebenso importiert waren, dick wie Elefantenbeine oder aufgerichtete Holzkloben.
Umzüge, Abreisen folgten in nicht enden wollender Reihe dicht aufeinander, alte Freunde konnte man nicht mehr einfach anrufen, indem man z. B. 241 … wählte, man musste sich auf ausgeklügelte Vorwahlen exotischer Länder einlassen, immer verbunden mit der Gefahr, an Mädchen zu geraten, für die es sozusagen keine Tabus gab. Oder man musste auf das Briefkuvert in fein säuberlicher Schrift Adressen wie „Straße des Feldmarschalls Raynold, Lyon“ malen (das alles natürlich auf Französisch).
Plötzlich gab es 24-Stunden-Service, Nachtcafés, Tanzlokale mit der klingenden Bezeichnung „Klub“. In diesen Lokalen amüsierte sich die Jugend, die sich ihre freien Abende vertreiben wollte, und zu vorgerückterer Stunde der Nacht, wenn die Schritte der Passanten auf der menschenleeren Straße kilometerweit widerhallten, waren sie voll von leichtlebigen Leuten. In der Luft, wirbelnd der Rauch modischer Zigarettenmarken, lagen Verführung und Verheißung, und auch die Mädchen hier schätzten sich weit über ihren Wert ein, als wären sie Prinzessinnen längst entschwundener Königreiche.
Die Musik tobte und die Leute, von denen die meisten noch nie über den Stadtgürtel hinausgekommen waren, fühlten sich, als wären sie eingeweiht in alle Geheimnisse der weiten Welt, die fortfuhr, in der Endlosigkeit dunkler Galaxien dahinzugleiten.
Mein Redakteur, so wie ich ein junger Mann – ein Feind der herrschenden Ordnung, die, offen gestanden, schon lange vor seiner Geburt Risse bekommen hatte, ein Rebell, allerdings im engsten Sinn dieses Wortes, dabei ein glühender Verehrer von Nabokov und Joyce – überschüttete mich mit den trüben Ergüssen seiner Begeisterung.
„Stell dir nur vor!“ rief er aus. „Seitenweise wird beschrieben, wie der Mensch – nicht irgendwer, der Mensch selbst – seinen Darm entleert. Kann es was Schöneres geben?“
Wie auch immer, Gespräche dieser Art ließ ich nur deshalb über mich ergehen, weil sie mir in der Regel von ein, zwei Tassen vorzüglichen Kaffees aus dem Buffet der Redaktion erträglicher gemacht wurden, eines Kaffees, der über jedes Lob erhaben war.
Außerdem strich er – wie das alle Redakteure tun – genau jene Zeilen aus meinen Reportagen, die mir am besten gefielen, und zwang mich dazu, sie neu zu schreiben, wozu ich denkbar wenig Lust hatte.
Unterdessen arbeitete der Redakteur wie besessen an einer neuen Linie für unsere Zeitung. Der neue Eigentümer hatte den alten Namen übernommen, unter dem die ehemaligen Besitzer, Erben der großen Dissidenten, in all den düsteren Jahren der Perestrojka die Demokratie unters Volk zu bringen versuchten, so leidenschaftlich wie einst Kaiser Julian, als er in den Weiten seines in allen Fugen krachenden Reiches den Dionysos-Kult wieder einführen wollte.
„Zum Teufel mit dem ganzen Plunder!“ schrie der Redakteur. „Uns interessiert, was man sieht, wenn man durchs Schlüsselloch schaut. Wofür wir Geld ausgeben. Wer wovon lebt. Wer mit wem ins Bett steigt. Wer woran leidet … das sind die ewigen Fragen“, fügte er im selben Ton hinzu, während er halbherzig den Tabakrauch abwehrte, den ich ausstieß, als sei ich ein feuerspeiender Drache und nicht ein durch und durch anständiger Bürger dieses Staates, der in seinen Grundfesten so sehr erneuert worden war, dass von ihm fast nichts mehr übrig geblieben war.
„Verstehst du denn nicht, wir brauchen mehr echten Realismus. Es ist höchste Zeit, dass wir uns öffnen.“
Kurz, hier war ein Mann, der in jeder Hinsicht begeistert war – dem nichts mehr am Herzen lag als eine gesunde Lebensweise, für die er keine Zeit fand, seine Frau, vor der er sich fürchtete, seine Kinder, mit denen er nichts anzufangen wusste.
Diesmal musste eiligst eine Kolumne mit dem Titel „Meine Misserfolge“ ins Leben gerufen werden, deren ausführliche Einzelheiten, dem Redakteur zufolge, die Herzen des Publikums erobern sollten. Die Helden sollten möglichst jung sein, aber bereits alle Widrigkeiten ihrer mit klebrigem Blut behafteten, schrecklichen verführerischen Zeit am eigenen Leibe erfahren haben. Als Idealfigur könnte ein Mann dienen, der anfangs Flugzeugtechnik studiert und dabei landet, Flugzeuge zu verkaufen – ein verhinderter Wissenschaftler also – im Handumdrehen Millionen verdient, Bankrott geht und wieder von vorne beginnt.
Oder als weibliches Pendant dazu eine junge Frau, die keine Lust verspürt, für ein ungewisses Gehalt zu arbeiten, und sich lieber den mühsamen Weg, geradezu einen Leidensweg, durch die Scylla und die Charybdis der Versuchungen und Verirrungen bahnt, wobei sie alle ihr zur Verfügung stehenden Register zieht.
Da unsere Zeitung wöchentlich erschien, war die erforderliche Anzahl von verhinderten Wissenschaftern und Prostituierten – ehemaligen Ballerinen oder Musikstudentinnen – nicht unbeträchtlich.
Es war nicht zu leugnen, es gab sie rundherum und sie atmeten mit uns die für alle Lungen schädliche Moskauer Luft, doch wie man es auch drehte und wendete, man konnte nicht jede Woche einen bankrotten Millionär aus dem Ärmel schütteln. Die Aufgabe war klar umrissen, was blieb war, einen Weg zu finden, sie zu lösen. Die neue Zeit verlangte nach neuen Helden, aufgepäppelt von tonnenschweren, kostbaren Sekunden – zu einem Cent das Stück.
„Denk nach, Junge, denk nach“, warf mir der Redakteur zum Abschied hin. „Was soll man machen, das Magazin muss nun einmal interessant sein“, seufzte er.
Auch ich seufzte.
Auf dem Nachhauseweg sah ich mich finster nach allen Seiten hin um und verfluchte im Innersten den Redakteur genauso wie die Millionäre. An mir rauschten, die tristen Obusse überholend, ganze Horden von Fahrzeugen international führender Automarken vorbei, und in jedem saßen ein, wenn nicht gar zwei Millionäre. Am Straßenrand posierten verkrampft die ehemaligen Ballerinen, und das schwache Licht der Verkaufsstände fiel auf das grüne Glas der Bierflaschen, die die bankrotten Millionäre dankbar aus den zitternden Händen der Verkäufer entgegennahmen, der Studenten von heute und Millionäre von morgen.
In Gedanken ging ich alle meine Freunde, gute wie flüchtige Bekannte durch, doch es war wie verhext, niemand kam für die unglückselige Kolumne in Frage. Die einen verscherbelten ihre Heimat in den Reihen der Händler-Bourgeoisie, ehrlich davon überzeugt, dass sie nicht schlecht daran verdienten, die anderen schleppten sich, wie die Treidler an ihren Seilen, mühsam durch ihr hoffnungsloses Leben, in dem sie immer noch Staatsbeamte waren, und die Dritten taten überhaupt nichts, verschwendeten keine Gedanken an Millionen, hatten nie studiert und lebten erstaunlicherweise besser als alle Übrigen, indem sie sich auf durchgelegenen Diwanen im Nichtstun suhlten. „Diese Scheißkerle haben verloren“, zischten einige von ihnen mit tonloser Stimme und meinten damit eine populäre Fußballmannschaft. Man bemerkte, dass, egal welche Regierung oder welches Wetter herrschte, diese bitteren Enttäuschungen die schmerzlichsten bleiben würden.
Alle, auch wenn keiner von ihnen große Not litt, gingen erst daran, ihre erste Million zu verdienen. Doch Journalismus ist nicht Literatur, sie interessiert nur das Resultat, sei es glänzend oder katastrophal, aber keine wie auch immer gearteten Vorbereitungen oder phantastischen Pläne.
Lohnt es sich zu sagen, dass ich selbst noch weniger in diese Kolumne passte?
„Über sich selbst schreibt man nicht“, sagte der Redakteur ärgerlich, obwohl er einen Wagen fuhr, der so viel kostete wie eine anständige Wohnung, und seine Telefonate von einem Handy aus führte, obwohl auf seinem Tisch, der von seinen Maßen her der eines Petersburger Stadthauptmannes zu Anfang des Jahrhunderts hätte sein können, sich ganz gewöhnliche Apparate aneinander reihten wie die Kriegsmaschinen einer Landungstruppe im Materialpark der Militärabteilung 0 16 60.
Das wenige, worauf wir uns einigen konnten, war: Weder er noch ich war für solche Kolumnen geschaffen.
Jetzt ist es an der Zeit, mich selbst vorzustellen – umso mehr als dazu ohnehin nicht viele Worte notwendig sind. Wie alle anderen wurde auch ich zuerst geboren und ging dann wie die meisten auch zur Schule. Von meiner Mutter erbte ich die Neigung für die Historische und andere große öffentliche Bibliotheken, während mein Vater (natürlich unbewuss oder, wie es am Ausklang des Jahrhunderts so schön heißt, genetisch bedingt) in mir die heimliche Leidenschaft für jenes gewisse Getränk entfachte, das schon seit jeher – wozu es verschweigen – viele meiner Landsleute sowohl das Privatleben als auch das bürgerliche Gesetzbuch vergessen ließ.
Als ich das Musterungsalter erreichte … an dieser Stelle meiner unspektakulären Biografie halte ich meist inne und kann nicht anders, als einem unserer unglücklichen Dichter das Wort zu überlassen, der das Wesentliche dazu erschöpfend ausgedrückt hat, genau 131 Jahre, bevor ich meinen ersten hysterischen Schrei unter dem blauen Erdenhimmel tat.