Moskauer Märchen


Erzählungen. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit

Der Besitzer eines Moskauer Nachtklubs und ein Neureicher, in seinem protzigen japanischen Geländewagen viel zu schnell unterwegs, ein Verkehrspolizist und die reizende Olessja Grunt, aber auch der bekannte Politiker N., dessen Namen wir nicht zu nennen brauchen, oder ein stadtbekannter junger Mann mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten, sind einige der Personen, die in den Moskauer Märchen unglaubliche Abenteuer und Schicksale erleben und erleiden. Wir werden an alte Geschichten wie etwa Rotkäppchen, den fliegenden Holländer, den Turmbau zu Babel, den Froschkönig, den Flug des Ikarus oder den fliegenden Teppich erinnert. Doch hier nehmen sie völlig überraschende Wendungen und führen zu einem unerwarteten Ende. In guter russischer, an die Werke von Nikolaj Gogol erinnernder Tradition, verpackt Kabakow seine kritische Schilderung der Moskauer Gesellschaft in schaurig-schöne, unterhaltsame Geschichten von Geistern, übernatürlichen Mächten und seltsamen Begebenheiten.

264 Seiten, gebunden mit Umschlag
ISBN: 978-3-9501769-6-4
Euro 22,00

Pressestimmen


Es gibt Texte, die mit der Zeit neue Bedeutungen und Facetten gewinnen. Vor allem Märchen.
Die „Moskauer Märchen“, geschrieben Mitte der Nulljahren, waren als gesellschaftliche Satire hochgepriesen.  

Es scheint jetzt, dass eine ganze Epoche von glitzerndem Glamour und „unbegrenzten Möglichkeiten“ in der Vergangenheit versunken ist. Pandemie und Klimakatastrophen zeigen erbarmungslos, dass dringend neue Wege gesucht werden müssen.

Aleksander Kabakow (1943–2020) hat die Zukunftstendenzen seit Beginn der 90er Jahren in seiner Prosa feinfühlig beschrieben. In dieser Sammlung von miteinander verbundenen Kurzgeschichten, wie in einem Spiegellabyrinth, verschmelzen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zum ewigen Kreislauf von Begierde und Scheitern.


Inna Hartwich – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow, in: Moskauer Deutsche Zeitung, Nr. 14 (237), Juli 2008, und http://www.mdz-moskau.eu 12. 09. 2008

Froschkönigin und der böse Wolf – In seinen „Moskauer Märchen“ lässt Alexander Kabakow Untote tanzen
Teils erfunden, teils aus dem Leben gegriffen stellt Kabakow die Märchenwelt auf den Kopf und räumt mit dem Mythos der geheimnisvollen russischen Seele auf.
Es war einmal ein Ruslan Iwanowitsch. Er nennt sich Abstul, lebt in Oberbrjuchanowo, liebt Whiskey und Koks, tanzt gerne in Nachtclubs und flitzt durch nächtliche Moskauer Straßen. Eines Tages trifft er in seinem japanischen Jeep auf einen Kombiwagen voller Skelette. Und weil der bekiffte und zugekokste Abstul gegen einen Stützpfeiler fährt, lebt er heute nicht mehr. „Märchen sind grausam, allerdings ist das Leben bis jetzt auch nicht besser“, heißt es in Alexander Kabakows Kurzgeschichten. Mit sarkastischer Leichtigkeit lässt der 65-Jährige korrupte Politiker mit bösen Hexen zusammentreffen, setzt einer Metro-Frau ein Rotkäppchen auf und spiegelt in seinen zwölf „Moskauer Märchen“ das heutige Leben in Russland wider: mal voller Ironie, mal sehr bemüht, menschliche Tragödien auf dem Blatt festzuhalten.
Lenin schläft. Tief und fest und lange. Das Dornröschen der Sowjetunion könnte auch weiterhin in seinen weltproletarischen Träumen versinken, wäre da nicht Eduard Wilorowitsch Dobroljubow. Der Offizier im Ruhestand – von der Ehefrau betrogen, vom Sohn in einen goldenen Käfig mit eigenem Schwimmbad und Urlaub an der Côte d’Azur eingesperrt, von den Enkeln kaum wahrgenommen – schlüpft in eine neue Rolle: Eduard Wilorowitsch gibt sich als Prinz. Alt, verbraucht und depressiv zwar, aber immerhin. Mit einem sanften Kuss will er die sowjetische Staatsleiche zum Leben erwecken. Hat bei Dornröschen schließlich auch funktioniert. An eine Hochzeit mit seiner „Prinzessin“ denkt der Ex-Offizier nicht, aber an das Leben, das er im alten Sowjetreich hatte, um so mehr. Doch bevor der großmächtige Arbeiter- und Bauernstaat wieder erblüht, liegt der Offizier tot am Boden. Herzinfarkt. Noch eine Leiche mehr.
Kabakow lässt ein ganzes Arsenal an Verstorbenen, Verunglückten, Verlorenen auffahren, stets sind sie von Menschen umgeben, doch immer einsam und allein. „Tja“, sagt der Autor. „Der Mensch ist eben böse“ und denke sowieso immer nur an „Kohle“. Und so wandeln sie durch die Gegend, all die Timofej Bolkonskis, Olessja Grunts, Politiker N.s – zwar immer im Scheinwerferlicht, von allen gekannt und geliebt, doch im Innern leer und ausgebrannt.
Der Autor, er kennt sie natürlich alle. Den „Sauhund Iwanow, diesen Träumerling, Schwätzer und nächtlichen Widergänger“, „Iljuscha Kusnezow, diesen ewigen Nörgler“ und den „Leonhard, diesen gerissenen Schlawiner“. Selbst über die „dicke Tatjana“ und ihr dünnes Portemonnaie weiß er zu berichten. So, als sei er auf ein Bier in die eigene Küche zu Besuch gekommen, hätte den geräucherten Fisch ausgepackt, auf dem Stuhl Platz genommen und losgelegt: „Ach, wisst ihr, wie war das noch mal? Ich bin mal wieder vom Thema abgekommen. Also …“ Wie ein alter Bekannter, der schon ganz Russland bereist hat und doch immer nur in Moskau zu Hause war, erscheint er vorm inneren Auge und nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch 50 Jahre russischer Geschichte – nicht ohne auf die kleine Portion Geografie- und Geschichtsunterricht zu verzichten. Er erzählt von Strafgefangenenlagern, von Wohnungsnot und Geldmangel mit der gleichen Leichtigkeit wie von den Exzessen der privilegierten Jugend im heutigen Moskauer Prunk, ihrem Streben nach Macht und Marmorbädern, nach Glanz und Glamour. Da bleibt ein Schmunzeln nicht aus.
Fast unmerklich bedient sich Kabakow bei Dostojewski, wirft die gogolschen toten Seelen beiseite, erschafft seine eigenen und lässt seine Ludmilla – ganz anders als Tschechow seine Irina – in Moskau ihr Glück suchen. Als Metro-Angestellte mit einem roten Käppchen auf dem blonden Haar wandert sie mit Wodka in der Puma-Tasche zur Oma Anna Semjonowna, bringt den bösen Wolf, den Penner Wolkow, um und wird reich. Einerseits „von Kopf bis Fuß erfunden“, andererseits die „reinste Wahrheit, aus verlässlichen Quellen geschöpft, nichts dazu fantasiert“ stellt Kabakow die gängigen Märchen auf den Kopf, wirbelt sie gehörig durcheinander und räumt endlich einmal mit dem Mythos der geheimnisvollen russischen Seele auf: „Das ist eine Seele, wie Seelen eben sind.“ Er lässt den unglücklichen Wachmann Igor Alexejewitsch einen Frosch küssen, den Videokünstler Tima als Ikarus in die Lüfte steigen oder den gierigen Bauunternehmer Iwan Eduardowitsch an seinem Babylon-Turm scheitern. Am Ende sind sie tot, depressiv oder auf Zypern unterwegs.
Auf 261 Seiten zeigt Kabakow eine „kleine, ganzheitliche Menschheit“, junge Damen, Ganoven, Duma-Abgeordnete, Hexen, Militärs – alle sind sie miteinander verwandt, verbandelt, befreundet. Bemüht wirkt dabei die Konstruktion der Schwestern- und Bruderschaft, zäh die immer wiederkehrenden Beschreibungen, wer wie was mit wem, die dem leichten Kabakowschen Sarkasmus in die Quere kommen. Eine etwas kleinere Märchenfamilie zaubert schließlich auch ein Lächeln auf die Lippen, und das Dornröschen Lenin träumt in seinem konstruktivistischen Mausoleum auch weiterhin von der Weltrevolution.


Mag. Barbara Schildknecht – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow, in: www.alphafrauen.org, s. Kunst und Kultur – Buchrezensionen – Gesellschaft&Soziales, 19.09.2008:

Ein sehr interessantes Buch mit der Möglichkeit der Geschichte und den Märchen Moskaus auf den Grund zu gehen.


Karlheinz Kasper – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow
01.2008, OSTEUROPA, Heft 1/08 (Print), „Bilder von dantesker Kraft…“ S. 102


Mühen des neuen Daseins
Aleksandr Kabakov (*1943) versteht sich als Vertreter jener aufmüpfigen Generation, die sein Lehrmeister Vasilij Aksёnov während der „Tauwetter“-Periode in de Roman Fahrkarte zu den Sternen dargestellt hat. Von Aksёnov hat Kabakov die beißende Ironie und die Vorliebe für eine märchenhaft-phantastische Verfremdung von Alltagsthemen geerbt, die auch seine Moskauer Märchen auszeichnen.
Aus der schaurigen Sage vom fliegenden Holländer macht er die Geschichte vom Totenauto mit dem holländischen Kennzeichen, das auf den nächtlichen Straßen Moskaus sein Unwesen treibt. Seine Opfer sind einige „neue Russen“, die glauben, ihnen gehöre die ganze Welt. Ruslan, der mit seinem Cottage an der Rublёvsker Chaussee prahlt, fährt betrunken auf dem VIP-Streifen, bis der protzige Jeep an einer Brücke zerschellt. Olesja, mit einem Finanzmann verheiratet, der es vom Komsomolsekretär zum Millionär gebracht hat, kommt nach dem Crash mit grauen Haaren und einem Trauma davon. Ein reich gewordener Politiker fährt seinen nagelneuen BMW zu Schrott und verschwindet spurlos. Ähnliches passiert einem Mann, der als Produzent von Videoclips, Restaurantbesitzer und PR-Mann für Politiker zu Geld gekommen ist. Sie alle soll der Holländer auf dem Gewissen haben. Einige Gestalten tauchen in mehreren Erzählungen auf, wechseln die Plätze, tauschen die Rollen. Unter den Bedingungen des neurussischen Kapitalismus wird der Turmbau zu Babel vorangetrieben, werden fliegende Teppiche gebraucht, zieht der ewige Jude Ahasver umher, finden Ikarus, Prometheus, Rotkäppchen, der Wolf und der Froschkönig keine Ruhe. Ein Major, der früher ein Arbeitslager geleitet hat, sucht auf dem Friedhof Rat bei toten Marschällen und Staatskünstlern, weil er Lenin in seinem Kristallsarg wach küssen will. Kabakovs Moskau ist bald ein modernes Babylon, bald ein Jahrmarkt der Eitelkeiten mit provinziellem Anstrich.


Hanns-Martin Wietek – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow
Der Büchervielfraß – www.buechervielfrass.de, www.russland.ru – 11.2007

Witz, Humor, Satire, Groteske zu schreiben, kann man nicht lernen, das muss einem Schriftsteller quasi in die Wiege gelegt worden sein. Geistvoll, hintersinnig, gehaltvoll zu sein, mit spitzer Feder reizen – nicht grob verletzen, dem Leser ein stilles Lächeln oder gar ein herzhaftes Lachen abringen und ihn doch zum Nachdenken bringen, und doch klar zu kritisieren ohne zu klagen, gar zu lamentieren – das bedarf dann aber auch großer Übung.
Ein solcher Könner ist ohne Zweifel Alexander Kabakow.
Sicher hilft dabei „die russische Seele“, die russische Mentalität. Sich selbst und auch die harten Fakten des Alltags nicht so ganz ernst zu nehmen, liegt diesem Volk im Blut, weshalb es schon in der Vergangenheit bis heute auch so viele herausragende Schriftsteller dieses Genres bei ihnen gegeben hat und gibt. Und Kabakow ist ganz sicher einer von ihnen.
Ganz besonders der, der Zeit, Umstände und das Leben in – in diesem Fall – Moskau kennt, wird seine wahre Freude an diesem Buch haben. Aber auch die „Nichtkenner“ Moskaus und der russischen Seele werden begeistert sein, was wiederum die große Kunst von Kabakow beweist.
Er verknüpft – oder besser: er lässt unmerklich ineinander gleiten – Märchen und Bericht, verknüpft die eigentlich einzelnen Episoden und kommt letztendlich zu einer romanhaften Beschreibung der Gesellschaft, die er aufs Korn nimmt; auch dieser Wurf ist meisterhaft gelungen.
Ich habe lange nicht mehr so sehr geschmunzelt.
Diese vielen Feinheiten aus einer Sprache in eine andere zu transponieren – ich vermeide bewusst das Wort „übersetzen“ –, bedarf es aber auch eines außerordentlichen Sprachgefühls; und an dieser Stelle muss man die Übersetzerin Frau Dr. Hannelore Umbreit erwähnen. Ihr Anteil an an diesem wunderbaren deutschen Buch ist sicher nicht weniger groß als der des Autors.
(…)
Einige Sätze zum Pereprava Verlag:
Es ist bewundernswert, dass in unseren Zeiten der ungehemmten Konzentration auf dem Buchmarkt (man könnte es auch viel negativer ausdrücken) ein kleiner Verlag sich zur Aufgabe gemacht hat, wertvolle Literatur der Gegenwart aus Russland uns deutschen Lesern zugänglich zu machen, ohne sich nur die Rosinen – sprich ganz großen Namen – „aus dem Kuchen zu picken“. Und das noch zu einer Zeit, in der die großen Mediengewaltigen ihre große Liebe zu Amerika zeigen und alte, längst verschwunden geglaubte Feindbilder wieder aus der Mottenkiste holen.
Das russische Wort »pereprava« (pereprava) bedeutet »(über einen Fluss) übersetzen«, im übertragenen Sinn soll es heißen „eine Brücke schlagen“ zwischen …. (in unserem Fall natürlich den russischen und deutschen Menschen).


Peter Pisa; Kurier – 27.10.2007 – zu Moskauer Märchen von Alexander Kabakow
Holländer am Steuer
Alexander Kabakow – Die „Moskauer Märchen“ (22,50 E) lesen sich, als würden sie vorgelesen werden. Plauderton. 2005 wurden sie bei der Buchmesse in Moskau zur „Prosa des Jahres“ gekürt, und das Wiener Verlagshaus Pereprava bringt die Übersetzung von Hannelore Umbreit. In den Märchen erzählt der sibirische Autor die russische Wahrheit über Neureiche, über Politiker, über die ultramoderne Kulturszene. Und damit er die Zustände ordentlich kritisieren kann, geistern der Turm zu Babel, der Froschkönig, das Rotkäppchen durch die Geschichten.Ein Beispiel: Ein fliegendes Auto mit holländischen Kennzeichen und einem Skelett am Steuer treibt einem unguten Emporkömmling auf dem VIP-Streifen der Regierungsstraße seine Privilegien aus. (…)


Heike Geilen – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow
10/2007 www.sandammeer.at

Märchen sind grausam, vor allem die russischen
Was hat „Schneewittchen“ mit Lenin und was „Der fliegende Teppich“ mit russischen Abfangjägern zu tun? Die einen sind beliebte Kindermärchen, die anderen tangieren tendenziell Historie und Politik des ehemaligen Vielvölkerstaates. Bringt man allerdings Aleksander Kabakow, den russischen Schriftsteller, ins Spiel, vereinen sich diese Kontroversen in ein und derselben Geschichte.
„Moskauer Märchen“ heißt sein Erzählband, in dem er authentische Begebenheiten, die alles Andere als märchenhaft, nämlich eher erschreckend und diabolisch sind, mythologisch verwebt. Seine „Märchen“ spiegeln das heutige Leben in Russland wider.
Bei Aleksander Kabakow geht „Rotkäppchen“ nicht mehr mit einem liebevoll zusammengestellten Korb voller Leckereien zur Großmutter, sondern hier besucht eine aufstrebende Bahnwärterin eine betagte Bekannte, um deren Wohnung zu „erben“. Da entsteigt nach dem erlösenden Kuss keineswegs Schneewittchen seinem Glassarg, sondern ein alter Militär im Ruhestand erweckt Lenin auf orale Art zum Leben. Und Wassilissa, die Wunderschöne, ist bei Kabakow auch nur ein intrigantes, leichtes Mädchen, das seinen Körper für Wohlstand verkauft und dem Ende der Jugend im Wodka-Rausch nachtrauert.
Tatsächlich begegnen dem Leser bekannte Märchen und mythologische Geschichten: von Rotkäppchen bis zum Bau des Babylonischen Turms, vom Froschkönig bis zum fliegenden Teppich, vom Flug des Ikarus bis hin zu Prometheus, der einem kleinen aufrührerischen, „apfelsinenfarbig“ gekleideten Volk das Feuer bringt, als die Region wegen ihres aufmüpfigen Verhaltens kurzerhand vom Stromnetz genommen wurde. Und wenn einer meint, man müsse nur die glitschige Haut der in einen Laubfrosch verwandelten grünen Zarentochter küssen, und schon könnte man mit ihr den Thron besteigen, tja, der landet gleich in der geschlossenen Anstalt, denn niemand wird heutzutage solch eine Philosophie verstehen.
Aleksander Kabakow hat die guten alten Märchen und Mythen aus aller Welt umgeschrieben. Er hat sie modernisiert, ihnen eine ganz eigene Tonart verpasst und sie nach Moskau verlegt. Doch das Gute siegt hier kaum noch über das Böse.
Erzähler ist der Autor selbst. Er berichtet dem Leser von Personen auf ihrem Karriereweg vom ehemaligen Komsomol-Sekretär zum Millionär, er spricht über Korruption und ausgeprägten Antisemitismus im kommunistischen Russland. Alle seine Geschichten offenbaren eine äußerst präzise Beobachtungsgabe, obwohl er nach seinen „märchenhaften“ Protagonisten nie lange suchen musste, erzählte der Autor in einem Interview. Es sind Menschen, von denen er in seiner Heimat tagtäglich umgeben ist, und auch die Handlungen sind der Realität entnommen.
Mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie unterlegt berichtet Kabakow mit sarkastischer Leichtigkeit über grausame Kindheitserlebnisse, Alkoholismus, Armut, Brutalität und spart auch weder die Kriegsereignisse in Tschetschenien noch das leichte Leben der neuen, geltungsbedürftigen russischen „Elite“ aus. Nicht nur Dostojewski, sondern auch Aleksander Kabakow schreibt über die Russen Sachen (…), die lieber kein Mensch wissen sollte“.
Herausgekommen ist eine Enzyklopädie des modernen russischen Lebens, mit all seinen typischen Beamten, skrupellosen Geschäftsleuten, Ganoven, leichten Mädchen, Politikern und anderen zweifelhaften, aber sehr gegenwärtigen Persönlichkeiten: auf der einen Seite sehr realistisch, auf der anderen stilistisch schrill überzeichnet und mit einer zum Teil schwermütigen Intonation. Diese Kontroverse und die großartige Kreuzung des fantastischen Genres mit der brutalen Realität seines Landes offerieren einen schaurig-schönen, unterhaltsamen, politisch brisanten und kritischen Streifzug durch 50 Jahre russische Geschichte.
Alle zwölf Geschichten und ihre „Helden“ sind untereinander vielschichtig verwoben und miteinander verknüpft. Vergangenheit und Gegenwart fließen ständig ineinander. Durch das permanente Überschreiten der Grenze zwischen Metapher und Realität werden beim Leser literarische Bilder und Visionen von beängstigender Realität und archetypischer Zeitlosigkeit erzeugt.
Und um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, was die mythischen Gestalten mit dem russischen Alltag gemein haben, kann als mögliche Antwort der Erzähler in der Geschichte „Rotkäppi und der Grauwolf“ herangezogen werden: „In den Märchen hat das Gute (…) immer Fäuste, und zwar eisenharte, von denen das Böse nur träumen kann. Märchen sind allesamt grausam. Allerdings ist das Leben bis jetzt auch nicht besser“, zumindest das in Russland nicht. Ein entscheidender Unterschied ist dennoch zu verzeichnen: die einstmals bekannten, liebenswert-hinreißenden Figuren entfalten sich in den „Moskauer Märchen“ zu tragischen „menschlichen Komödien“, die eher traurig aus dem Text herausschauen.
Den immer mit einem Schuss Ironie unterlegten russischen Originaltext hat Hannelore Umbreit prägnant und imposant ins Deutsche übertragen.

Leseprobe


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