Essays und Vorträge von Sergei Awerinzew
Die deutschsprachigen Essays und Vorträge des vorliegenden Bandes versammeln Beiträge des russischen Literaturwissenschaftlers, Kulturwissenschaftlers, Religionswissenschaftlers, Philosophen, Dichters, Übersetzers Sergei Awerinzew, der als einer der hervorragendsten Gelehrten unserer Zeit gelten kann und der von 1994 bis 2003 als Ordinarius am Institut für Slawistik der Universität Wien tätig war. Die Beiträge des Bandes, die vom Beginn der 90er Jahre an bis 2002 entstanden, bilden einen Teil des überaus produktiven und reichhaltigen wissenschaftlichen Gesamtwerks von Sergei Awerinzew, mit dem sie thematisch verbunden sind: Theologie, Christliche Philosophie, Christliche Kultur in Europa und in Russland, Wesen der Ikone, Sophiologie, Russische Literatur, unter anderem mit Beiträgen zu Alexander Puschkin, zum Symbolisten Wjatscheslaw Iwanow, zu Anna Achmatowa und zu Ossip Mandelstam, zu Boris Pasternak und zur zeitgenössischen russischen Dichterin Olga Sedakowa, wobei Awerinzew die russische Literatur auch unter vergleichendem Aspekt betrachtet, weiters Beiträge zu Goethe, Georg Trakl, Franz Kafka, Hermann Hesse, zu Fragen der Poetik und der Prosodie, zur Übersetzung der Evangelien und der Psalmen, zu Übersetzern aus dem Russischen, zur Kultur der russischen Emigration und zu Themen wie Zeitgeist, Totalitarismus, Ehe und Familie.
208 Seiten, gebunden mir Umschlag
ISBN 3-9501769-4-2,
EUR 15,00
Pressestimmen
Neue Zürcher Zeitung
„Awerinzew war gleichermaßen Pionier und Bewahrer.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Er verkörperte jenes fast unsichtbare Band, das die russische Gelehrsamkeit der vorrevolutionären Spätblüte mit der postkommunistischen Gegenwart verband.“
Volker Strebel – zu „Die fremde Sprache sei mir eine Hülle“ von Sergei Awerinzew, 01.01.2008 www.literaturkritik.de
Echte Paradoxa und falsche Wirklichkeiten
Längst überfällig: endlich liegt eine Sammlung mit Vorträgen und Essays des bedeutenden russischen Gelehrten Sergej Averincev (1937-2004) in deutscher Sprache vor.
Auch die Geisteswissenschaften waren in der Sowjetunion der marxistisch-leninistischen Parteilichkeit verpflichtet. Unter einem ideologischen Eispanzer konnten sich dennoch Gelehrte von internationalem Rang wie Dmitrij Lichatschow, Boris Uspenskij, Boris Gasparov oder Jurij Lotman etablieren.
Auch Sergej Averincev (1937-2004) gehört zu jenen unabhängigen Geistern, deren akademische Karriere sich außergewöhnlichen Bedingungen ausgesetzt sah. Nach seinem Studium der klassischen Philologie, das Averincev mit einer Dissertation über Plutarch abgeschlossen hatte, kam er zunächst am „Institut für Geschichte und Theorie der Kunst“ unter und konnte ab 1969 bis 1992 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften in Moskau arbeiten. 1994 bis 2003 war Sergej Averincev als Ordinarius am Institut für Slawistik der Universität Wien tätig.
Die vorliegende Sammlung von 15 Essays und Vorträgen dokumentiert die ungewöhnliche Bandbreite der Forschungsgebiete von Sergej Averincev, der neben seiner Tätigkeit als Literatur-, Kultur- und Religionswissenschaftler auch als Dichter und Übersetzer hervorgetreten war.
Besonders bestechend sind diejenigen seiner Arbeiten, in denen sich die dargestellte philologisch-kulturwissenschaftlichen Zusammenhänge aus einer ungewöhnlichen Belesenheit speisen. Ein Beispiel dieser faszinierenden Fähigkeit Averincevs, unsichtbare Verbindungen in plastischer Weise aufzuzeigen, findet sich in seinem Beitrag „Goethe und Puschkin (1749-1799-1999)“. Die Abstufungen der Lebenszeit der Dichter vor dem kulturellen Hintergrund offenbart Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, denen sich Averincev zu nähern versucht. Beide sieht er vor die große denkerische Herausforderung der Aufklärung gestellt. Beide verteidigen dieses Erbe gegen die irrationale Herausforderung der aufkommenden Romantik. Und doch finden sich im Bereich des Religiösen, bei Johann Wolfgang Goethe auch in Form eines Bezugs zur Natur, Topoi, welche ihre Abweisung des kaltnüchternen Verstandes untermalen: „Der systematische rationalistische Negativismus à la Voltaire war für Goethe wie für den reifen Alexander Sergejewitsch Puschkin unakzeptabel“. Als Vertreter einer Moderne, die von der Unverzichtbarkeit sinnlich erfahrbarer Wirklichkeit weiß, teilten zugleich Goethe wie auch Puschkin das Bewußtsein einer Wesenseinheit des unmittelbar menschlichen Geschicks mit überschreitenden Universalien.
Seine russisch-deutschen Gegenüberstellungen in der Literatur ergänzt
Averincev in einem Beitrag über Osip Mandelstam und Ewald von Kleist, oder mit Anmerkungen zu Franz Kafka.
Russland war in Averincevs Denken und Arbeiten von verschiedenen Seiten her betrachtet worden. Als Philologe und Theologe lotete er die byzantinische Tradition aus. In dem Beitrag „Die slawische Apokalyptik“ forscht Averincev nach den Wurzeln der tragischen Verirrungen des 20. Jahrhunderts in Russland. Das Hinterfragen gängiger Klischeevorstellungen und zeitgeistiger Kulturmodelle barg für Averincev keine eindimensionalen Antworten: „Diese sonderbarste Mischung von Gescheitheit und Absurdität, von Melancholie und Humor, von Hoffnungslosigkeit und Hoffnung gegen alle Hoffnung, von Bereitschaft, das Unmögliche zu tun, und Widerwillen, sich um das bloß Mögliche zu bemühen, diese Neigung zu äußersten Extremen von Heldenmut
und Zynismus, von Vaterlandsliebe und nationalem Selbsthass, diese lyrische Note, die immer an der Grenze zur Hysterie vibriert, auch diese Mystik – und diese Trunksucht“.
Sergej Averincev, der sich wohl eher in der Tradition von Alexej K. Tolstoj als einen „aufgeklärten Konservativen“ verstanden hatte, verband neben seinem
diszipliniert betriebenen Gelehrtenstudium auch unmittelbar kulturkritische, ja politische Äußerungen. Im vorliegenden Band finden sich Überlegungen zur „Humorlosigkeit des Zeitgeistes“ oder „Zum Problem der Globalisierung“.
Der sehr persönlich gehaltene Beitrag „Die Solidarität in dem verfemten Gott: Erfahrungen der Sowjetjahre als Mahnung für Gegenwart und Zukunft“ bilanziert den Atheismus in der Sowjetunion: „Heinrich Böll erwähnte einmal, wie schwer es ihm war, in der Hitlerzeit die uniformierten SS-Männer auf der Kommunionbank in einer katholischen Kirche zu sehen. Gott sei Dank wurden wir in der kommunistischen Zeit von derartigen Erlebnissen ziemlich gut beschützt“.
Eine der Lehren, die Averincev aus diesen Erfahrungen gezogen hat, ist die kritische Erkenntnis, dass Konformität alle wohlfeilen Denk- und Handlungsangebote gefährden kann. Auch liberale Demokratien sind, Demut gehört nicht zum Zeitgeist, vor träger Selbstgefälligkeit nicht gefeit.
Regina Károlyi „Die fremde Sprache sei mir eine Hülle” von Sergei Awerinzew,
www.sandammeer.at, virtuelle Literaturzeitschrift, 05/2006
Russland und Westeuropa im Dialog
Der 1937 in Moskau geborene und 2004 in Wien verstorbene bedeutende Geisteswissenschaftler – man möchte von einem Universalgelehrten sprechen – Sergei Awerinzew fühlte sich stets seiner russischen Heimat und ihren großen Denkern, aber auch dem deutschsprachigen Kulturkreis und seiner Wahlheimat Wien (ab 1994) verbunden. In den vorliegenden Essays und Vorträgen findet der Leser diese Verbundenheit, das Bestreben, aus dem Reichtum beider Kulturen zu schöpfen und die gemeinsamen über die trennenden Elemente zu stellen, immer wieder vor.
Dem westeuropäischen Leser erschließt sich dank dieser Texte Russland mit seiner Geschichte, seiner kulturellen und religiösen Tradition auf eine kompakte und von breit gefächertem Wissen geprägte Weise. Aber auch die Geschichte sowohl der anderen slawischen Staaten als auch Westeuropas ist dem Autor gründlich vertraut, sodass er Parallelen und Unterschiede kompetent und treffend beobachten, herleiten und kommentieren kann.
In den Essays und Vorträgen herrschen vor allem folgende Themenkomplexe vor: Russland als ein schwieriges Vaterland für Denker und Dichter, die sich gern am aufgeklärten Frankreich orientierten; die Herkunft der russisch-orthodoxen Kirche aus der griechischen, ihr Bruch mit dem Katholizismus und die Annäherungen nicht zuletzt durch bedeutende Denker vor allem von russischer Seite; der Werteverfall nach der „Wende“ und die Instrumentalisierung der orthodoxen Kirche durch Persönlichkeiten des alten Regimes; das Vakuum nach dem Totalitarismus in diesem Zusammenhang und bezüglich der zwischenmenschlichen Solidarität; die Probleme des Westens durch die Abwertung des Christentums und Möglichkeiten, wie sich eine europäische Christenheit gestalten ließe. Wesentliches, wiederkehrendes „Leitmotiv“ ist aber immer wieder der mit westeuropäischer, oftmals deutschsprachiger Dichtung und dem ihr zugrunde liegenden Gedankengut befasste russische Dichter – wie Ossip Mandelschtam, der den heute hier ebenfalls vergessenen Ewald von Kleist in Russland einführen wollte.
Sehr interessant erscheinen Awerinzews Gedanken zum modernen Zeitgeist in Russland, aber auch in Westeuropa, insbesondere, wenn er die Humorlosigkeit des Zeitgeistes aufgreift oder auch die Globalisierung: Die erwähnten profunden Kenntnisse, gepaart mit ausreichender Distanz, führen zu bemerkenswert objektiver Kritikfähigkeit, die sich nie von oben herab äußert, sondern Denkanstöße liefern soll.
Wer sich je von Russlands Geschichte, von seiner Literatur, Kultur und für den Westeuropäer so erstaunlich innigen und mystischen Religiosität hat verzaubern lassen, findet hier eine Fülle von Begründungen für ansonsten schwer verständliche Phänomene und begreift vor allem, dass West- und Osteuropa tiefe gemeinsame Wurzeln besitzen, auf die sie sich eigentlich leicht zurückbesinnen könnten und auch sollten. Die Einflüsse von Ost und West auf die Dichtung des jeweils anderen Teils Europas werden anhand des von Awerinzew vermittelten Hintergrundwissens transparent und weisen darauf hin, dass Russland sich mit wenigen Ausnahmen unter Fremdherrschaft und Diktatur immer als Teil Europas begriffen hat – zu Recht, wie Awerinzew nachweist. Die verbindende Rolle der Religion, vielleicht das zentrale Thema der Texte und des Buchs, unterstreicht diese Einheit und bietet Chancen, dass die durch den Eisernen Vorhang scheinbar endgültig getrennten Teile Europas sich einander wieder annähern können, sofern die Religion aufrichtig ausgeübt wird und ihren Platz im Leben der europäischen Völker (wieder) findet.
Awerinzews Stil ist natürlich von seinem wissenschaftlichen Hintergrund geprägt, dabei aber sehr gut verständlich und somit für ein breites Publikum bestens geeignet, sofern dieses etwas Erfahrung mit russischer und deutschsprachiger Literatur und Philosophie besitzt. Trocken wirken die Essays und Vorträge nie, im Gegenteil, die offen präsentierten persönlichen, aber stets wohl begründeten Überzeugungen des Autors werden lebendig und durchaus packend präsentiert.
Eines jener raren Sachbücher, deren Lektüre nicht nur Fakten vermittelt, sondern auch in menschlicher, persönlicher Hinsicht eine Bereicherung darstellt!
Leseprobe
Alexei Konstantinowitsch Tolstoi (1817-1875): Historismus »à la Russe«
Man stelle sich vor: die Gedichte des russischen Dichters Alexei Tolstoi wurden oft sofort nach ihrer Entstehung durch den großen Franz Liszt (Pianist und Komponist) vertont, und zwar ging es manchmal so, dass der berühmte Komponist sich bereit zeigte, selber einen deutschen Vers- übersetzer zu suchen (und wenn es auch nicht immer ganz klappte1, zeigt diese Bereitschaft doch, wie sehr sich Liszt von den Gedichten Tolstois angesprochen fühlte!). Aber meist entstand das Problem, einen Überset- zer finden zu müssen, gar nicht: Durch das ganze Leben des russischen Dichters zog sich eine einzigartige, langjährige Geistesfreundschaft mit der deutsch-russischen Dichterin Karolina Pawlowa-Janisch (in den da- maligen deutschen Publikationen Carolina von Pawloff genannt), die sei- ne Gedichte immer als eine der ersten erhielt, damit sie, wie sie es zu tun pflegte, unverzüglich an deren deutscher Version arbeiten könne2… Wie er selber in einem Brief an einen Freund … >> weiterlesen
1. Vgl. den Brief des Dichters an Karolina Pawlowa vom 14. Februar. 1875 (А. К. Тolstoi, Sobranije sotschineni [Gesammelte Werke]. Bd. 4, Моskwa 1964, S. 439-441).
2. Karolina Pawlowa, geb. Janisch (1807-1893), eine höchst eigenartige Persönlichkeit, sehr willensstarke Frau und begabte Dichterin, die russischsprachige, deutschsprachige und auch französischsprachige lyrische Gedichte verfaßte. Ihre dichterische Zusammen- arbeit mit A. K. Tolstoi gab dem Dichter in seinen zahlreichen Briefen an Pawlowa Anlass zu vielen spaßhaften und quasi-erotischen Metaphern, wie z. B. in den Zeilen, wo ihre Zusammenarbeit mit der »Zeugung« eines gemeinsamen Kindes verglichen wird:
»…Das Ding, dem wir das Leben Und den poetischen Hauch
Im keuschen Beiwohnen gegeben, Wird nimmermehr ein Schlauch.«
Auch Pawlowas manchmal an Härte grenzende Entschlossenheit wurde im Kontext derselben Briefe in deutschsprachigen Gedichten besungen. Ein Gedicht z. B. erwähnt ihr Treffen mit dem deutschen Philosophen und Shakespeare-Spezialisten Hermann Ulrici:
»Hart wie Cäsar, hoch und hehr, Unterjochst Ulrici,
Könntest sagen just wie der: Veni, vidi, vici.
[…] Peitschenknall und Schellenklang, Wie sie nie erschollen –
Und man hört die Elb’ entlang Die Quadriga rollen!«
Das Neue Testament und die hellenistischen Literaturgattungen
Es scheint kaum möglich, die Eigenschaft des Neuen Testaments als einer Grenz-Erscheinung zwischen den beiden literarischen Traditionen, der alttestamentlichen und der hellenistischen1, schärfer ins Auge zu fassen, – als wenn wir bei der Lektüre des »Lukasevangeliums« auf den 4. bis 5. Vers eingehen. Damit überqueren wir gleichsam die Grenze zwischen zwei grundverschiedenen stilistischen Zonen: nach einer vortrefflich ausgearbeiteten Periode, die bekanntlich den ganzen »Lukas-Prolog« ausmacht, geraten wir urplötzlich in den Raum einer durch und durch septuaginta-abhängigen Stilistik, die einen befremdenden Klang für die griechischen Ohren hatte:
»Zur Zeit des Herodes, des Königs von Judäa, lebte ein Priester namens Zacharias, der zur Priesterklasse Abija gehörte. Seine Frau stammte aus dem Geschlecht Aarons, sie hieß Elisabeth« (Lukas 1, 5; zitiert nach der Einheitsübersetzung).
Schon das erste Wort »egéneto« ist überreich an semitischem couleur lo- cale. Diese Wendung, meistens auch mit »kai« versehen, wurde häufig am Anfang der Episoden wie auch der ganzen Bücher der Septuaginta (wie »Hosea«, »Judith«, »Ruth«, »2. Könige«) verwendet, um das hebrä- ische »wjhj (wajjehí)« mit konsekutivem »waw« wiederzugeben2. Auch bei den übrigen Synoptikern wie in der Apostelgeschichte markiert das- selbe Wort den Anfang dieser oder jener Episode. Auch die Wendung »to ónoma autēs Elisabet« (»ihr Name war Elisabeth«) gemahnt etwa an die Worte »ijjób schemó, Iōb to ónoma autoú« (»Hiob war sein Name«), im ersten Satz des »Buches Hiob«. >> weiterlesen
1. Vgl. K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament. In: H. Temporini, W. Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Reihe II, Bd. 25, 2, Berlin 1984, 1031-1432; 1831-1885; D. Aune, The New Testament in its Literary Environment. Philadelphia 1987.
2. Vgl. J. H. Moulton, A Grammar of New Testament Greek. Vol. I, Prolegomena. 3rd ed. Edinburgh 1908, repr. 1949; M. Johannessohn, Das biblische »kai egéneto« und seine Geschichte. In: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 53, 1926, S. 161-212.