Die weiße Taube von Córdoba


Roman von Dina Rubina
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg

In ihrem Roman „Die weiße Taube von Córdoba“ erzählt Dina Rubina die Geschichte des Künstlers, Kunstexperten und Fälschers Sachar Kordowin.
Als Experte vor allem für seinen Lieblingsmaler El Greco und dessen Zeit ist Kordowin zwischen Jerusalem, Toledo, Rom, Miami und schließlich Córdoba unterwegs und tätig. Die eingewobenen Rückblenden führen in seine jüdische Familiengeschichte, seine Kindheit im ukrainisch-sowjetischen Winniza und nach Leningrad, wo er seine Lehrjahre verbrachte. Nach und nach formt sich die Geschichte eines hochbegabten, sensiblen Künstlers und Suchenden …

Ein Abenteuerroman, ein Kunstkrimi, ein Historienroman, eine Familiensaga.

478 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-9503914-2-8

Euro 19,95 Morawa, Euro 19,90 Hugendubel

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Rezension


„Die weiße Taube von Córdoba“ von Dina Rubina erzählt die Geschichte eines Kunstfälschers und stellt eine Mischung aus Abenteuerroman, Kunstkrimi, Historienroman und Familiensaga dar.  Der Roman umspannt ein gewaltiges geografisches und zeitliches Territorium. Er erzählt nicht nur von den globalen Abenteuern des Kunstfälschers zwischen Madrid, Jerusalem, Rom bis nach Miami, sondern ist auch eine Zeitreise durch die Vergangenheit des Protagonisten und seiner Vorfahren. Dazu gehören eine Kindheit im ukrainisch-sowjetischen Winniza mit seiner jüdischen Lebenswelt, Lehrjahre in Leningrad, die ersten Kontakte des Protagonisten mit der Kunstwelt, aber auch das Schicksal der spanischen Juden, Reconquista und Inquisition (im Zusammenhang mit seinem Lieblingsmaler El Greco, in dessen Stil er ein Bild fälscht) sowie der Zweite Weltkrieg und die Blockade von Leningrad (der ein Teil seiner Familie zum Opfer fällt).

Leseprobe


Erstes Kapitel

1

Vor seiner Abreise rief er seine Tante doch noch an. Überhaupt war er immer derjenige, der den ersten Schritt zur Versöhnung machte. Vor allem durfte er sich nicht einschmeicheln, nicht herumsäuseln, er musste Haltung bewahren, als hätte es keinen Streit gegeben – nur eine Plänkelei, ein kleiner Zwist.  

„Na, was soll ich dir nun mitbringen?“, fragte er. „Kastagnetten?“ 

„Fahr zur Hölle!“, zischte sie. Dennoch war ihrer Stimme eine gewisse Genugtuung anzumerken – er hatte doch noch angerufen und war nicht sang- und klanglos davongeflattert. 

„Oder vielleicht einen Fächer, Shuka?“ sagte er lächelnd in den Hörer und stellte sich ihr Patriziergesicht mit der gekrümmten Nase in einem bläulichen Lichtschein vor. „Dann kleben wir dir ein Schönheitspflästerchen auf die Wange, und du trittst auf den Balkon deines Invalidenhauses und wedelst wie ein Modestutz, verflucht.“ 

„Von dir will ich nichts“, sagte sie störrisch.

„Schau an.“ Er selbst war zahm wie ein Lamm. „Na gu-ut … Dann bringe ich dir einen spanischen Besen mit.“ 

„Wieso einen spanischen?“, platzte sie heraus. Reingefallen!

„Auf welchem Besen reitet eure Schwesternschaft denn sonst?“, rief er jubilierend wie ein Kind, das einen Einfaltspinsel übertölpelt hat und dann aufgeregt durchs Zimmer springt: „Ätsch, schab ein Rübchen, bist doch kein Bübchen.“

Sie warf den Hörer auf die Gabel, aber das war kein Streit mehr, nur etwas wie ein Gewitter im Mai, und nun konnte er leichten Herzens abreisen, zumal er einen Tag vor ihrer Auseinandersetzung zum Markt gefahren war und den Kühlschrank seiner Tante bis zum Platzen gefüllt hatte.

* * *

Nun musste er nur noch eine Sache eintüten, ein Sujet abrunden (die Vignetten der Details, die Arabesken der Einzelheiten), das ihn schon drei Jahre beschäftigte.

Und dann würde morgen endlich auf dem Hintergrund einer türkisblauen Dekoration aus dem Meeresschaum (dem therapeutischen Schaum eines Erholungsortes wohlgemerkt) im Morgenrot eine neue Venus geboren werden, die seine Signatur trug: als letzter Schlag eines Dirigenten, als pathetischer Schlussakkord einer Sinfonie.

Ohne Eile packte er seinen olivfarbenen, weichen Lederkoffer, der nicht groß war, aber so viel fasste wie ein Soldatenrucksack: Man konnte ihn vollstopfen bis zum Geht-nicht-mehr, wie Onkel Sjoma immer gesagt hatte, und trotzdem passte noch der zweite Schuh hinein.   

Wenn er sich auf eine Reise vorbereitete, wählte er immer sorgfältig seine Garderobe. Er zögerte bei den Hemden, ersetzte das cremefarbene durch ein blaues, zog dazu aus einem Bündel Krawatten die ultramarine aus dem Schrank, die aus Seide … Ja, und Manschettenknöpfe natürlich. Die ihm Irina geschenkt hatte. Und dann noch die anderen von
Margot – die musste er unbedingt einpacken, ihr entging nichts.

Fertig. Und nun war der Experte für alle fünf Tage des spanischen Projektes eingekleidet.

Als er das Wort „Experte“ in Bezug auf sich aussprach, erheiterte ihn das dermaßen, dass er zu lachen anfing. Er fiel sogar vornüber auf die Liege neben dem geöffneten Koffer und lachte minutenlang, lauthals, mit Vergnügen – wenn er allein war, lachte er immer am ansteckendsten. 

Immer noch kichernd rollte er sich an den Rand der Liege, ließ sich herabhängen, zog die untere Lade des Kleiderschranks auf, wühlte zwischen zerknitterten Unterhosen und Strümpfen und holte eine Pistole hervor.

Es war ein leicht zu handhabender „Glock“-Revolver von primitiver Konstruktion mit einer Schlagbolzensicherung und einem schwachen, sanften Rückstoß. Man konnte ihn zudem mit Hilfe einer Haarnadel oder eines Nagels binnen einer Minute auseinandernehmen. 

Wollen wir hoffen, mein Freund, dass du das wichtige Treffen morgen im Koffer verschläfst.     

Am späten Abend verließ er Jerusalem in Richtung Totes Meer.

Er fuhr nicht gern im Dunkeln über diese Kurven hinab, aber vor Kurzem war die Straße verbreitert worden und nun teilweise beleuchtet, so dass die kamelhöckrigen Hügel, die einen zuvor von beiden Seiten bedrängt und in den Trichter der Wüste gedrückt hatten, nun widerwillig beiseitezutreten schienen.

Jenseits der Kreuzung jedoch, wo die Straße hinter einer Tankstelle abbog und am Meer entlangführte, hörte die Beleuchtung auf, und hier fühlte man sich erneut überwältigt von der salzluftgesättigten, unheilvollen Dunkelheit – einer Dunkelheit, die es nur am Meer gibt, an diesem Meer –, die einem mit den Scheinwerfern jäh entgegenkommender Autos ins Gesicht schlug. Rechts türmten sich die grimmigen, schwarzen Felsen des Qumran auf, links erahnte man die dunkle Salzebene, die asphaltschwarz aufblitzte und hinter der mit seinen fernen Lichtern das jordanische Ufer feucht schimmerte.   

Nach etwa vierzig Minuten stieg aus der Dunkelheit ein festliches Gestirn von Lichtern auf und zerstreute sich: En Bokek mit seinen Hotels, Kurkliniken, Restaurants und Boutiquen, eine Freud’ für Tourist und Wandersmann. Weiter unten am Ufer rollte in einiger Entfernung vom Kurort das gigantische und einsame Hotel „Nirwana“ seine weißen, grell beleuchteten Sonnendecks in die Nacht, und dort war in Zimmer 513 Irina wohl schon eingeschlafen.

Von allen seinen Frauen war sie die einzige, die wie er am liebsten mit den Hähnen schlafen ging, um mit ihnen wieder aufzustehen. Was ihm eigentlich nicht recht war: Mit niemandem mochte er die Stunden bei Sonnenaufgang teilen, er hütete diese drahtige Kraft des Morgens, wenn man einen riesigen Tag vor sich hat, die Augen geschärft und frisch sind, die Fingerspitzen fein fühlen wie die eines Pianisten, der Kopf auf Hochtouren läuft und einem alles gelingt im Dampf der ersten Tasse Kaffee.

Dieser wertvollen Morgenstunden zuliebe verließ er Irina oft in tiefer Nacht.  

Er fuhr auf den Hotelparkplatz, holte sein Gepäck aus dem Kofferraum und ging ohne Eile, die letzten Minuten des Alleinseins ausdehnend, auf die gewaltigen Karussellschaufeln des Haupteingangs zu.

„Schläfst du?“, warf er dem äthiopischen Türsteher im Scherz zu. „Ich habe eine Bombe dabei.“

Dieser zuckte zusammen, ließ das Weiß seiner Augen aufblitzen und zog in der Dunkelheit die helle Harmonika eines ungläubigen Lächelns auseinander: „Ach wa-a-as …“

Sie kannten einander vom Sehen. In diesem Hotel, das so gut besucht und chaotisch war wie die Stadt abseits des Kurortes, hielt er gern seine Geschäftstreffen ab, die letzten, abschließenden: Es war der Schlussakkord der Sinfonie, zu dem sich ein Aspirant zunächst den schwierigen Weg bahnen musste, durch die über das Meer ragende Felsenklauen hindurch, die ein Riesenzahnarzt mit seinen Klammern und Spangen zusammenhielt.

Recht so. Wie hatte Onkel Sjoma immer gesagt? Wer nicht schwitzt, dem Gold nicht blitzt. (Wobei der Onkel mit seinem orthopädischen Schuh nie so schnell hätte laufen können, dass er ins Schwitzen geraten wäre.)

Da war es, das Zimmer 513. Lautlos vereinigte sich die Schlüsselkarte mit dem Schlitz des Türschlosses, die Karte hatte er einem einfältigen Zimmermädchen abgeluchst: Wissen Sie, ich will meine Frau nicht wecken, die Arme leidet an Migräne und legt sich immer früh schlafen …

Nie war er verheiratet gewesen.

Nie hatte Irina an Migräne gelitten.

Und wecken wollte er sie unverzüglich.     

Sie schlief und hatte sich wie immer in ihr Laken eingerollt, lag darin wie ein Feta in einem drusischen Pitabrot.

Immer verhüllt und vergräbt sie sich, steckt sich die Decke unter die Seite – Archäologen bräuchte man da. 

Nachdem er Koffer und Jacke abgeworfen hatte, zog er sich im Gehen den Pullover aus, streifte – ein Fuß am anderen – die Schuhe ab und ließ sich neben ihr aufs Bett fallen, noch in T-Shirt und Jeans – der Schieber war auf einer Wölbung des Reißverschlusses verklemmt.  

Irina erwachte. Zeitgleich kamen sie in Bewegung, versuchten, sich der Decke, der Kleidung zu entledigen, und raunzten sich dabei gegenseitig an:

„… du hast versprochen, unverschämter Kerl …“  

„… ich halte mein Wort, Dame im Etui!“

„… was stürzt du dich denn auf mich wie ein Wilder! Nun warte doch …“

„… er kann nicht warten, merkst du das nicht?“

„… pfui, dreister Kerl, lass mich wenigstens …“

„… wer könnte dich lassen … so, bitte, so … sooo…“       

Hinter der geöffneten Balkontür schwang sich im Einklang mit ihrem Rhythmus der zitronengelbe Mond mit einem glotzäugigen, schamlosen „Bravo!“ über das Geländer und wieder hinab, zunächst langsam und fließend, dann immer schneller und schneller – als ließe er sich von einer neuen Wippe hinreißen –, wobei er die Schwungweite mal vergrößerte und mal verkleinerte. Doch dann hielt er in atemberaubender Höhe inne und suchte sein Gleichgewicht, als wolle er noch einmal den Himmelskreis überblicken … und auf einmal riss er sich los, raste und raste, wobei er kaum Luft holte bei dieser Raserei, bis er schließlich aufstöhnte, innehielt und befreit erzitterte, um sich beruhigt und erschöpft in einem hinteren Winkel des Firmaments niederzulassen … 

Danach plätscherte Irina in der Dusche, wobei sie das Wasser ständig von heiß auf kalt umstellte (gleich würde sie nass wie eine Ertrunkene ins Bett kommen, und er musste sie wärmen, bis er blau war vor Kälte). Er versuchte, mit seinem Blick den mikroskopischen Bewegungen des blassen und aufgeblähten Himmelskörpers zu folgen, der gerade noch Komplize seines Beischlafs gewesen war. 

Schließlich stand er auf und ging auf den Balkon hinaus.

Das riesige Hotel am Rand des glitzernden Salzsees war in dumpfem Schlaf versunken. Unten lag ein palmenumstandener Swimmingpool, auf dessen Oberfläche, die wie der polierte Deckel eines Konzertflügels glänzte, die brüchige Mondscheibe auf- und absprang. Dreißig Meter vom Swimmingpool entfernt erstreckte sich der Strand mit den über Nacht zu gliederfüßigen Pyramiden aufgetürmten Plastikliegen und Stühlen.     

Das kühle Schimmern des Salzes in der Ferne verlieh der reglosen Nacht eine eisige Lautlosigkeit, das Gefühl von Neujahr – eine Art Erwartung von Wundern und Geschenken.

Nun ja, an Geschenken sollte es nicht fehlen.    

„Bist du verrückt geworden, nackt auf dem Balkon?“, war hinter ihm eine muntere Stimme zu hören. „Hast du kein bisschen Anstand im Leib? Hier sind doch überall Leute …“

Manchmal wollte man sie zwar nicht abschalten, aber leiser stellen.

Er schloss die Balkontür, zog den Vorhang vor und knipste die Tischlampe ein. „Du hast zugenommen …“, sagte er gedanken­versunken, während er sich auf dem Bett räkelte und Irina in ihrem geöffneten Frotteebademantel betrachtete. „Das gefällt mir. Du siehst jetzt aus wie Dina Vierny.“

„Wa-a-as? Wer ist dieses Weib?“     

„Sie stand Maillol Modell. Zieh doch mal diesen blöden Bademantel aus, ja … und dreh dich mit dem Rücken zu mir. Ja, es sind dieselben Proportionen. Ein zarter Rücken und dabei eine ausdrucksvolle Hüftlinie. Und die Schultern gehen jetzt fließend in den Hals über … Ach, was für eine Bild! Schade, dass ich schon seit Ewigkeiten keinen Bleistift mehr in die Hand nehme.“

Sie schnaufte kurz, ließ sich in den tiefen Sessel neben dem Bett fallen und griff nach einer Zigarettenschachtel.

„Na mach schon … Erzähl mir noch was über mich.“

„Bitteschön! Weißt du, wenn eine Frau ein wenig zunimmt, wird ihr Busen sanfter, freigiebiger … er lächelt. Und die Farbe der Haut verändert sich. Die zarte Schicht des Unterhautfetts gibt dem Körper eine edle, perlmutterne Färbung. Dabei entsteht so eine … mh … Klarheit der Lasur, verstehst du?“  

 Gern hätte er vor Sonnenaufgang noch eine oder eineinhalb Stunden gedöst. Aber Irina hatte sich eine Zigarette angezündet und war munter und voller Tatendrang. Eh man sich’s versah, nahm sie ihn nochmal in die Pflicht. Hauptsache, sie fing kein Beziehungsgespräch an.    

„Und dann, weißt du …“, sagte er gähnend und drehte sich auf die Seite, „dieses gemessene Schaukeln der Hüften, wenn man von hinten und von oben schaut, das raubt einem den Verstand, wenn man dann noch mit den Händen …“

„Kordowin, du Flegel!“ Sie lehnte sich vor und schleuderte ihm die leere Zigarettenschachtel in den Rücken. „Eine arglistige Sirene bist du, Kordowin! Ein Casanova, ein mieser Verführer!“

„Nicht doch“, murmelte er, während er unaufhaltsam in den Schlaf sank. „Ich bin nur … ein Verliebter …“  

Das alles war die reine Wahrheit. Er liebte die Frauen. Er liebte die Frauen wirklich – ihren flinken Verstand, ihre erdverbundene Klugheit, ihren klaren Blick für Details. Nie wurde er müde zu wiederholen, dass eine kluge Frau gefährlicher ist als ein kluger Mann: Zum gewöhnlichen Scharfsinn gesellte sich bei ihnen noch ein emotionales, wahrhaft animalisches Gespür, mit dem sie – aus der Luft heraus, einem Drang folgend – das erfassten, wovor die Logik kapitulierte. Er war ein Freund der Frauen, schloss seine Geschäfte am liebsten mit ihnen ab, hielt sie für die verlässlicheren Kameraden und überhaupt – für bessere Menschen. Oft gestand er sich ein: „Ich bin ein sehr weiblicher Mann.“ Immer wusste er, wie er sie erheitern konnte, und an jeder fand er etwas, woran er sich ergötzte.     

* * *

Wie gewöhnlich wachte er um fünf Uhr dreißig auf. Schon viele Jahre stieß ein pflichtbewusster, unerbittlicher Engel in den Kasernen des Himmels um diese Zeit seinen Weckruf aus, und welchen Traum er auch träumte, welche Müdigkeit ihn zwei Stunden zuvor auch überwältigt hatte – um fünf Uhr dreißig öffnete er die Augen und schleppte sich fluchend in die Dusche.

Aber zuvor hatte man ihm heute schon wieder das Blechding gezeigt.

Es scheint, als richte er sich auf, drehe unter größter Anstrengung seinen Oberkörper – in diesen Träumen vollzieht sich immer alles in einer Abfolge zäher Bewegungen –, setze sich im Bett auf, bekäme die Augen kaum auf … und dann sieht er: Auf dem Zeitungstischchen des Hotels steht es. Heilige Mutter! – da steht es, das zerbeulte Blechding … Nein, sagt er sich (alles folgt dem seit Langem eingeübten Drehbuch eines Nachtmahrs) –, es ist kein Blechding, hol’s der Teufel, sondern ein silberner Sabbatbecher, ein altes Familienstück, obwohl – ja, an der Seite ist er tatsächlich etwas verbeult; aber das liegt daran, dass er vom Laster gefallen ist. Und Shuka, die Waise (Krieg, Winter, Evakuierung), war ohne Furcht unter die Räder gekrochen und hatte ihn von dort hervorgeholt! Und du Schurke, Halunke und Schlitzohr hast ihn einfach zum Antiquitätenankauf gebracht, ohne mit deinen schamlosen Wimpern zu zucken. Und vor allem hättest du längst gelesen, was dort am Rand eingraviert ist. Damals ging es nicht, da konntest du die abstrusen Krakel nicht entziffern, aber jetzt würdest du sie mühelos lesen, denn es war ja sicher Hebräisch?

Ach, Shuka, stöhnte er wie immer (es lief weiter nach Drehbuch, der Traum ging den Bach hinunter, genauer: er bewegte sich quälend den Fluss aufwärts), ich habe mich doch hundertmal entschuldigt … ich habe es eingesehen … habe ihn gesucht! Warum streiten wir überhaupt, mein Gott, hier ist er doch! Dort steht er auf seinem silbernen Fuß – dunkel, massiv, seit Langem ungeputzt –, so dass auch das Schiffchen nicht erkennbar ist …

Dabei streckt er seine bleischwere Hand aus, durchdringt mit Mühe die dicken Schichten des Schlafs, als seien es Wassermassen. Er streckt die Hand weiter aus, immer weiter, und endlich bekommt er den schweren Becher zu fassen, dreht ihn in den Fingern, bringt ihn seinen Augen näher. Und auf drei leichten Wellen schwimmt die dreimastige Galeone, über den silbernen Fuß winden sich Buchstaben, die er nun versteht: „Der Zug nach München fährt um 22 Uhr 30 von Gleis 2 ab.“  

Und erst dann kann er erwachen, ist endlich wach. Herrgott, wie oft noch … Verzeih mir, Shuka!

Lange stand er unter den brennenden Peitschenhieben des heißen Wassers, dann stellte er jäh das kalte Wasser an und massierte sich, vor Vergnügen ächzend, mit dem harten Schwamm, den er immer dabeihatte. 

Dann rasierte er sich ohne Eile, pfiff dabei vor sich hin, aber leise, um die Riesenschlange im Bett nicht vorzeitig aufzuwecken … Diese herrliche, etwas füllige Riesenschlange, deren stramme Ringe sich zart pulsierend zusammenzogen … mh ja. Trotzdem sollte man ihr nicht erlauben, noch fülliger zu werden.

Während er sich sorgfältig das vorgestreckte Kinn rasierte (bei diesem allmorgendlichen Ritual war das die größte Qual – sein strammes Kinn war hart wie ein Apfel und hatte ein schwer zugängliches Grübchen unterhalb der Unterlippe), betrachtete er sich aufmerksam im großen Badspiegel.  

Du bist ein bisschen vertrocknet, Junge … Onkel Sjoma würde sagen: geschrumpft. In seiner Jugend war er eher stämmig gewesen. Oft hatte man ihn sogar für einen Boxer gehalten. Jetzt war er schmaler, wie aus dem Bilderbuch. Seine Nase war irgendwie … knochiger geworden … Ein richtiger Aristokrat, verflucht.

Nur der Igel von dichtem, schwarzem Haar (ein hartnäckiges Familien­pigment, pflegte er auf Komplimente flüchtig zu antworten) und die ebenfalls teerschwarzen Augenbrauen, die über den tief­liegenden grauen Augen auf einer geraden Linie fast zusammen­wuchsen, waren unverändert. Und dann noch diese vertikalen Grübchen in den Mundwinkeln, die seinem Gesicht den Ausdruck kindlicher Freundlichkeit gaben, als sei er stets bereit, die Lippen zu einem Lächeln auseinanderzuziehen: Ich liebe dich, meine große, gute Welt … Ja, das war sein Trumpf. Vielleicht dein einziger Trumpf, was meinst du, Junge? 

Als er auf Zehenspitzen aus dem Badezimmer kam, um aus dem Koffer Hemd und Anzug zu holen, merkte er, dass auch Irina wach
war – verflucht, ihre Frühaufstehernatur kam ihm jetzt völlig unge­legen! Sie lag in ihrem Kokon, zerzaust, in ekelhafter Laune und voller Kampfbereitschaft.

„Du machst dich feige aus dem Staub“, sagte sie, während sie aufmerksam und ironisch beobachtete, wie er sich anzog.

„Ja, ja“, er lächelte sie breit an, „ich bin schrecklich feige! Überhaupt habe ich große Angst vor dir und diene dir untertänigst. Schau mal, die Manschettenknöpfe. Erkennst du sie wieder? Ich vergöttere sie und demonstriere damit allen: ‚Das ist ein Geschenk meiner geliebten Frau.‘“

„Deiner geliebten Frau. Du hast doch in jeder Stadt an die hundert davon.“

 „Hundert? Was soll ich mit so vielen, mein Gott! Wie sagte meine Onkel Sjoma aus Winniza? ‚Wer will das, wer hält das aus?‘“

„Was bist du nur für ein Scheusal, Kordowin! Wir hatten doch beschlossen, von nun an immer gemeinsam zu reisen.“

Das hätte sie nicht sagen sollen. Diese erdrückende Gemeinschafts­verkoppelung zum „Wir-Wahn“ – ein lebenslanger Wir-Wahn-Witz. Ein ungutes Symptom. Musste er sie nun etwa aus dem Stand einer Geliebten in den einer Freundin versetzen? Schade, es war so schön mit ihr gewesen, mit Irina. Eigentlich hatten sie all die drei Jahre ideal gelebt, ohne dieses scheußliche „wir“ … Wir bauen einen schönen Garten, so schön wie keiner jemals war … Uns beflügelt unser Spürsinn der Einsamkeit, mein Kind, unsere wölfische Sehnigkeit, das Beben der Nasenflügel im Vorgefühl einer aufgenommenen Fährte. Was für ein „wir“ kann es da geben?

„Bring mich nicht dazu, die Hose wieder auszuziehen, Herrin“, sagte er dümmlich klagend und gedehnt, „ich verkühl mir mein Hinterteil. Siehst du, bin schon in Zaum und Zeug.“  

Und trotzdem trat er auf das Bett zu, legte sich – im Anzug – neben sie, die verschlafen und unglücklich aussah, ertastete unter der Decke ihren nackten Arm und zog ihn unbarmherzig hervor, wollte ihn küssen, von den Fingern bis zur Schulter: lückenlos und gründlich, jeden Zentimeter, und dabei etwas Scherzhaft-Doktorhaftes von sich geben. 

Sein Gesetz war: keine Diminutive. Alles nannte er nur bei seinem vollen, herrlich klingenden Namen. Ein weiblicher Name war ihm heilig, ihn abzukürzen Blasphemie, geradezu Gotteslästerung.  

Sie wurde weich, lachte, weil es kitzelte, und zog die nackte Schulter ans Ohr.

„Du riechst gut: Jasmin … grüner Tee … was ist das für ein Eau de Cologne?“ 

„L’ Occitane. Wurde mir im ‚Duty free‘ aufgeschwatzt, in Boston. Da bin ich an eine Verkaufsmaus geraten, die hat sich fast umgebracht. ‚Das ist eine Traditionsfirma, eine Traditionsfirma … die Flakons sind echte Handarbeit.‘ Ich habe es gekauft, damit sie mich in Ruhe lässt.“ Er setzte sich auf und schaute flüchtig auf die Uhr. „Hör mal, meine Liebe, jetzt mal im Ernst: Sei nicht betrübt. Welches Vergnügen soll man schon an einer Universitätskonferenz mit dem trostlosen Titel ‚El Greco: un hombre que no se traicionó a sí mismo‘ haben?“

„Was heißt das?“

„Ist das nicht egal? Das heißt „El Greco: ein Mann, der sich selbst nicht verriet“. Ein sinnloses Thema, eine weitere sinnlose Konferenz. Toledo ist auch eine düstere Stadt, vor allem im regnerischen April … Da könnte man sich weiß Gott lieber hier in die Sonne legen. Soll ich dir noch ein paar Mäuse hierlassen für diese Bäder … na … die mit Algen? ‚Madame ist im Urlaub, Madame ist es sich wert.‘“

Das war einer ihrer Lieblingssätze, von denen sich innerhalb von drei Jahren einige angesammelt hatten – die Bemerkung eines Verkäufers in einem teuren Laden in Sorrent, wo Irina versucht hatte, ihn davon abzuhalten, ‚schrecklich viel Geld für ein Täschchen aus dem Fenster zu werfen‘. Sie lachte laut und sagte: „Schon gut, hau ab. Wann geht dein Flugzeug?“ 

Nun konnte er unverhohlen und besorgt auf seine Uhr schauen: „O, ich muss losrennen! Sonst schaffe ich es nicht.“

Er sprang auf, schnappte sich sein Jackett, den Koffer, drehte sich auf der Schwelle um und schmatzte ihr einen Luftkuss zu. Aber Irina hatte sich wieder fest eingerollt, und nur ihr zerzauster Scheitel ragte unter der Decke hervor. Mein armes verlassenes Wesen … 

Leise schloss er die Tür hinter sich.

Nachdem er über die Treppe eine Etage hinabgestiegen war, blieb er stehen und lauschte auf die Stille des noch schlafenden Hotels: Irgendwo unten in der Nähe des Swimmingpools hallte das seelenruhige Gespräch der Putzfrauen nach, die Riesenschlangen von Gummischläuchen über den nassen Beton zerrten. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und öffnete den Reißverschluss an seinem Koffer, um zwei Dinge hervorzuholen: den blauen Strickhandschuh für die rechte Hand – ein eigenartiger Handschuh, mit Aussparungen für die Fingerkuppen – und seine noch unschuldigere „Glock“.

Aber warum denn gleich so … angespannt? Er steckte den Revolver in seine Jacketttasche, zog den Handschuh über, bewegte seine Finger wie ein Pianist vor der ersten Bravourpassage, dann holte er sein Mobiltelefon hervor und wählte eine Nummer.

„Wladimir Igorewitsch? Habe ich Sie nicht geweckt?“

Die Antwort kam wie eine Welle der Dankbarkeit angerollt: „Sachar Mironowitsch, mein Lieber, guten Tag! Schön, dass Sie Wort gehalten halten. Ich bin schon seit sechs Uhr auf den Beinen und finde keine Ruhe. Wann passt es Ihnen? Ich bin in Zimmer vierhundertzwei.“

„Hervorragend“, erwiderte er. „In einer Minute bin ich bei Ihnen.“

Wieder verschwand die Pistole durch die gezahnte Ritze des Kofferreißverschlusses: Man hätte diese erregte, ehrerbietende Dankbarkeit schwerlich imitieren können, die gerade in der Stimme des Kunden zu hören gewesen war. Schließlich hatte er ein geschärftes, animalisches Gespür für Nuancen und Intonationen.

Und wirklich: Der glanzvoll herausgeputzte Wladimir Igorewitsch erwartete ihn quecksilbrig an der geöffneten Tür seines Appartements. Über welche geheimen Pfade sein Rasierer wohl allmorgendlich den Weg zwischen all den Warzen fand? Warum nur ließ er sich keinen Bart wachsen? Oder galt nach dem Geheimkodex dieser neuen Krösusse ein Bart als Zeichen verborgener Absichten? 

„Nicht über die Schwelle!“, rief der Dicke, trat zurück und hielt ihm seine Patschhand hin. 

Über Umwege hatte Kordowin in Erfahrung gebracht, dass der frischgebackene Sammler über Fabriken in Tscheljabinsk verfügte. Oder waren es Minen? Die nicht in Tscheljabinsk lagen, sondern in Tschukotka? Weiß der Himmel, das war egal. Möge der Erzengel Gabriel alle segnen, die Geld in ein Stück Leinwand investieren, das mit Kaseinleim überzogen und mit Ölfarben bedeckt ist.

Tatsächlich, er erwartete ihn aufgeregt: Durch die geöffnete Schlafzimmertür war ein soldatisch ordentlich gemachtes Bett zu sehen.    

Das Bild – eine Leinwand auf einem Keilrahmen – erwartete mit der Vorderseite ans Sofa gelehnt seine Stunde.

Wie rührend diese ambitionierten Sammler doch waren! Alle zittern vor dem Moment, in dem das Röntgenauge eines Experten das Bild durchdringt. Es kam auch vor, dass sie das Sofa oder den Sessel, auf die sie das Bild gepflanzt hatten, mit einem weißen Laken bedeckten, als wollten sie den geschätzten Blick des Kenners vor der aufdringlichen, farbenreichen Umgebung schützen. Es war die farbliche Sterilität eines OP-Saals oder das kindliche Spiel Augen zu, und erst wieder öffnen, wenn ich es sage!

Wenn das so ist, verehrter Wladimir Igorewitsch, werden Sie erst einmal eine kleine Lektion darüber zu hören bekommen, wie nichtig und vergänglich dieses Kennertum ist.

Er stellte den Koffer auf dem Fußboden ab und warf sein Jackett darüber.

„Ist doch nicht schlimm, dass ich Ihnen meine Linke gebe?“, fragte er, als er ungeschickt die aufgedunsene Hand des Sammlers drückte (er hätte seine Hand hinter dem Rücken hervorholen und sie ihm reichen müssen). Dabei zeigte er ein entwaffnendes Lächeln. „Langjährige Arthritis, bitte verzeihen Sie. Manchmal tut es so weh, dass ich aufkreische wie ein Weib.“

„Was Sie nicht sagen!“, sagte der Dicke bekümmert. „Haben Sie es schon einmal mit ‚Goldbart‘ probiert? Meine Frau schwört darauf.“

„Was ich nicht alles ausprobiert habe, lassen wir das lieber! Sind Sie erst gestern angekommen?“

„Natürlich. Als Sie mir sagten, dass Sie heute abfliegen und es die einzige Möglichkeit ist, Sie zu erreichen, habe ich ein Zimmer reserviert, und nun ist es wie in dieser Oper: ‚Ein Liebender liegt dir zu Füßen – die Jammerknechtschaft aufzuschließen‘.“  

Wo er wohl eine solche Oper gehört hat? In seinem Tscheljabinsk vielleicht? Nein, mein Lieber, verhüte Gott, dass du zu meinen Füßen liegst …

Auf dem Couchtisch standen eine Flasche „Courvoisier“ und zwei Cognacschwenker, aber es war dem armen Kerl anzumerken, dass er völlig entgeistert war: Weder forderte er ihn auf, sich zu setzen, noch bot er ihm ein Glas Cognac an. Das war wirkliche Leidenschaft …

„Nun also, kommen wir zur Sache“, sagte Kordowin. „Ich habe ja nur wenig Zeit.“

„Nur eine Sache noch“, sagte Wladimir Igorewitsch, während er sich nervös die Handflächen rieb, als wolle er sie ineinander verschrauben. „Das ist wichtig … Sachar Mironowitsch, Sie treffen mit sehr verschiedenen Leuten zusammen, sogar der Plebs weiß heute, wie er sein Geld anlegen muss. Ich kann mir vorstellen, wie abstoßend derartige erzwungene Bekanntschaften für Sie sein müssen, auch unsere. Sagen Sie nichts, ich weiß es! Aber wissen Sie, Sachar Mironowitsch, als Sammler bin ich tatsächlich noch im Kleinkindalter, früher hatte ich keine Möglichkeit, Kunst zu sammeln. Woher hätte ich als sowjetischer Entwicklungsingenieur das Geld nehmen sollen? Als Kunstliebhaber habe ich jedoch schon einige Jahre auf dem Buckel, das bin ich seit meiner Jugend. Wenn ich nach Moskau musste, auf Dienstreise für drei Tage – schnell den Koffer ins Hotel und ab ins Puschkin-Museum und die Tretjakow-Galerie … Ich traue mich kaum, es zu sagen, aber ich kleckse auch selbst gern ein bisschen herum … Und ich habe einiges gelesen. Ihr Buch ‚Die Geschicke der russischen Kunst im Ausland‘, das habe ich im Internet gefunden und gelesen. Zu gern würde ich Sie zu mir einladen.“ 

„Nach Tscheljabinsk?“ fragte der Experte neugierig. Mit unbändigem Vergnügen beobachtete er, wie unverhüllt sein Kunde versuchte, sich vom Plebs abzugrenzen.

„Nicht doch“, lachte Wladimir Igorewitsch. „Meine Sammlung habe ich lieber hier in Caesarea. Und wenn heute … wenn Kordowin heute höchstpersönlich ein positives Urteil zur Urheberschaft abgeben sollte … Wenn Sie jetzt ‚Ja‘ sagen, dann ist das mein dritter Falk. Und der vortrefflichste.“

Er sprang zum Sofa – trotz seiner Leibesfülle mangelte es dem Dicken nicht an einer gewissen, schwerfälligen Grazie – und drehte das Bild um. Er stellte sich daneben, als wolle er es bewachen: Angespannt und mit errötender Glatze lenkte er seinen forschend-flehenden Blick von der Leinwand zum Experten. Ob er heute schon seine Blutdrucksenker genommen hatte? Das war jetzt die Frage.

Nachdem er sich im Sessel niedergelassen hatte, holte Kordowin gemächlich seine Brille aus der Brusttasche seines Jacketts, setzte sie schweigend auf und betrachtete die Leinwand – aus der Entfernung.

Das Bild stellte eine Landschaft dar. Im Vordergrund ein Busch, dahinter erkannte man einen grauen Gartenzaun und einen kleinen Pfad, über den sich in der Dämmerung schemenhaft eine Frau bewegte. Im Hintergrund ein rotes Dach und Baumwipfel. 

„Ist das aus der ‚Chotkowo-Reihe‘?“, fing Kordowin endlich an zu sprechen.

„Genau!“, freute sich Wladimir Igorewitsch. „Das nenne ich einen Profi! Es heißt auch so: ‚Trüber Tag. Chotkowo‘. Die Alte, der das Bild gehörte, konnte sich nur an den Titel erinnern. Stellen Sie sich das vor: Den Namen des Malers hatte sie vergessen, aber den Titel, sagte sie, den wusste sie all die Jahre auswendig wie ein Gedicht.“

„Das kommt vor.“ Er seufzte. „Und wie sieht es mit der Provenienz aus?“

„Aus meiner Sicht ist sie tadellos“, erwiderte der Sammler, wodurch er eine angenehme Kenntnis der Terminologie des Gegenstandes erkennen ließ. „Es gibt eine schriftliche Bestätigung der Besitzerin. Das alte Mütterchen ist die Witwe eines mittelklassigen israelischen Rechtsanwalts, sie war seine zweite Frau. Das Bild hing all die fünfundzwanzig Jahre ihres Ehelebens an der Wand. Sie sagt, ihr Mann habe es 1956 aus Moskau mitgenommen.“  

„Gekauft? Geschenkt? Irgendwelche Einzelheiten?“

„Leider nichts. Die Arme leidet an blühendem Alzheimer.“ Er winkte ab. „Ich finde, das ist sogar besser: Auf jeden Fall macht das alles einen familiär-natürlichen Eindruck. Und was ebenfalls viel wert ist: Wir sind in ordentlicher Entfernung vom russischen Markt mit seinen üppigen Falsifikaten.“

Recht hatte er. Was den russischen Markt betraf – da haben Sie ins Schwarze getroffen, Verehrtester. Und die alten Witwen – was ist an ihnen so viel wert? Ihre schwachen Augen und der blühende Alzheimer: Sie erinnern sich an nichts weiter als an den heutigen Morgen.

(Sofort musste er an das letzte, kräfteraubende Zusammentreffen denken, als die Alte seinen Tausender in grünen Scheinchen glatt­gestrichen und endlich geruht hatte, das Schriftstück aufzusetzen: „Nun habe ich schon wieder den Titel vergessen … Schauen Sie mal nach, Sachar, steht er vielleicht auf der Rückseite?“ Und er hatte die Leinwand umgedreht, auf den nicht existierenden Titel gestarrt und ihn Silbe für Silbe diktiert: „Trüber Tag Punkt Chotkowo“.)  

„Soll ich Ihnen das Bild reichen?“ Wladimir Igorewitschs Körper strömte Bereitschaft aus – zu nehmen und zu reichen, zu halten, auszubreiten und zu beleuchten … Am liebsten wäre er um das Bild herumgetanzt und hätte es mit Händen und Blicken liebkost – für einen wirklichen Sammler war das ein völlig normaler Zustand, ähnlich der Verliebtheit, und dieser Zustand überträgt sich auch auf den verehrten Experten. Im Übrigen hatte es in der Geschichte des Gegenstandes auch Fälle dankvollen Händeküssens gegeben.

„Einen Moment“, Kordowin nahm die Brille ab und legte die Bügel des teuren, modischen Gestells zusammen wie die Hände eines Verstorbenen. Er zögerte …

„Zuallererst sollte ich Folgendes klären: Möchten Sie meine ehrliche Meinung, Wladimir Igorewitsch, oder meine Unterschrift unter der Expertise?“    

Der Dicke ächzte, errötete. Nun ja … Er war ein emotionaler Mensch und offenbar ein echter Kunstliebhaber, nicht irgendein Trottel, auch wenn er sich eine Fabrik unter den Nagel gerissen hatte … oder war es doch eine Mine gewesen? 

„Sachar Mironowitsch! Wer will schon wahrhaben, dass man seiner Sammlung ein Kuckucksei untergejubelt hat!“

„Sagen Sie das nicht“, schmunzelte dieser. „Vor etwa acht Jahren sollte ich eine Expertise für einen Käufer erstellen. Ich erinnere mich, dass zwei Bilder zum Verkauf standen: ein Maschkow und übrigens auch ein Falk. Selbst ein Blinder mit Holzauge hätte gesehen, dass beide Bilder von derselben Hand gemalt waren. Wobei man sich zwischen den beiden Bildern noch nicht einmal ein Kaffeepäuschen gegönnt hatte. Ein klarer Fall, wie es schien. Doch der ,Sammler‘ meuterte und forderte jähzornig eine Schacherei. Es war eine dumme Situation für mich. Natürlich wäre in solchen Fällen ein Vergleich der Röntgenaufnahmen ideal gewesen, denn Fälscher imitieren in der Regel nur den sichtbaren Teil, die oberflächlichen Pinselstriche. Den Aufbau des Bildes zu durchdenken, dafür fehlt ihnen der Grips. Aber eine Röntgenaufnahme erfordert einen entsprechenden Apparat und einen Röntgenspezialisten.“     

„Und?“, fragte Wladimir Igorewitsch mit einem Gesichtsausdruck, als fiebere er dem Finale eines Thrillers entgegen.

„Ich habe mich einfach ohne ein Wort ins Auto gesetzt und bin gefahren. Niemals würde ich meine Unterschrift unter eine Fälschung setzen. Aber zwei Jahren später wurden die Cowboy-Zwillinge bei einer hochangesehenen Auktion ausgestellt, mit der Expertise eines gefügigeren Experten von ‚Art-Modus‘, und sie erzielten einen stattlichen Preis. Ja, er war ganz und gar stattlich, fünfmal so hoch, wenn ich mich recht entsinne. Und im Haus des Kapitäns vom legendären Flüchtlingsschiff ‚Exodus‘ – ja, genau der – sah ich einen riesigen Malewitsch: zwei mal drei Meter, so etwas kann es gar nicht geben. Der tapfere Kapitän war sehr davon angetan, obwohl mehrere Experten ganz offen ihre Meinung dazu abgegeben hatten. Wissen Sie, Wladimir Igorewitsch“, fügte er nachdenklich hinzu, „wir sollten der Wahrheit ins Auge sehen. In den letzten Jahren ist die Jagd auf wirklich wertvolle Kunstwerke immer unerbittlicher geworden. Die Macht der Experten hat unverhältnismäßige, ungerechtfertigte Ausmaße angenommen. Und auch wenn es mein Beruf ist – Sie haben doch nichts dagegen, dass ich aufrichtig bin? –, finde ich es grässlich, in Ihren Augen als Zauberer und Hexenmeister dazustehen. Ich bin kein Hexenmeister.“

„Aber nein, mein Gott!“, schlug dieser die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich verstehe das und bin mir völlig im Klaren darüber, dass …“

„… und jetzt wollen wir das Bild genauer betrachten.“

Wladimir Igorewitsch nickte und übergab dem Experten mit ausgestreckten Händen vorsichtig das Bild. 

Dieser drehte es schweigend um und betrachtete den Rahmen und die Rückseite der Leinwand. Minuten der Stille wurden nur vom aufgeregten Schnaufen des Dicken unterbrochen, der in einer angespannten, halben Verbeugung verharrte, und unten schrie vor dem Hintergrundgeräusch plätschernden Wassers immer wieder ein Kind auf, und eine Frauenstimme keifte: „Ich sage doch, du bekommst was auf den Po-o …“

„Sie wissen natürlich“, sagte Kordowin endlich, „dass ein seriöses Gutachten eine komplexe Angelegenheit ist. Neben der kunstwissenschaftlichen Einschätzung sind auch einige naturwissen­schaftliche Untersuchungen notwendig: eine Röntgenaufnahme, eine chemische Analyse … Man kann auch mit dem Mikroskop orakeln, etwas über die Pigmente und Bindemittel wispern … Solche Gutachten bekommt man bei soliden Expertenverbänden.“

„Sachar Mironowitsch!“, flehte der Sammler. „Zum Teufel mit diesen Verbänden. Ich brauche einzig und allein Ihre Meinung. Was denken Sie persönlich?“  

„Nein, warten Sie. Ich habe es natürlich eilig, aber mein Ruf ist mir wichtiger als meine Zeit. Und ich möchte ganz offen zu Ihnen sein. Sie schauen mich an, als sei ich der Herrgott selbst, Wladimir Igorewitsch. Aber leider verteile ich keine Plätze im Paradies. Das Schreckliche ist, dass niemand die volle Verantwortung für die Ergebnisse einer Expertise übernehmen kann. Sie haben doch sicher vom größten Kunstskandal des zwanzigsten Jahrhunderts gelesen, als der überaus erfahrene Experte und Kunstwissenschaftler Doktor Abraham Bredius van Meegerens Fälschung als eine Arbeit von Jan Vermeer anerkannte. Und dann vor Kurzem der Skandal um das vermeintliche Bild von Schischkin, das in Wirklichkeit vom Holländer Marius Kukukk stammte, den die Tretjakow-Galerie verschnarcht hat? Woraufhin ein gewisser russischer ‚Sammler‘ für viele Tausend Golddukaten diesen ‚ausgemachten Schmu‘ kaufte – übrigens stammt dieser kunstwissenschaftliche Ausdruck von einem Dealer mit zehn Jahren krimineller Vergangenheit. Er hat vom Racketeering zum Antiquariatshandel gewechselt, denn dort gibt es höhere Gewinne und mehr Ehrpusseligkeit. Besonders tragisch-komisch an der Sache ist, dass manchmal nicht einmal der Künstler selbst in der Lage ist, seine Arbeit von einer Fälschung zu unterscheiden. Als Claude Latour, die berühmte Pariser Kunstfälscherin, entlarvt und vor Gericht gestellt wurde, war Utrillo in einer dummen Lage: Er konnte keine eindeutige Antwort darauf geben, ob das Bild von ihm stammte oder eine Fälschung war. Und de Vlaminck rühmte sich damit, er habe einmal ein Bild à la Cézanne gemalt, und jener habe es als sein eigenes anerkannt.“

„Aber … was dann?“, seufzte der Sammler hilflos. „Welche Garantien hat man noch?“  

„Es gibt keine Garantien, mein Lieber!“, rief Kordowin aufgebracht. „Von welchen Garantien kann die Rede sein, wenn die Museen und Privatsammlungen in aller Welt zu einem Drittel aus Fälschungen bestehen, trotz aller chemischen Analysen und Untersuchungen per Röntgen, Infrarot und Ultraviolett? Meinen Sie etwa, die meisterhaften Fälscher sind dümmer als wir Experten? Unter ihnen gibt es echte Virtuosen, hochklassige Profis … Und die wissen ganz genau, wie Expertisen erstellt werden, und berücksichtigen alle Echtheitskriterien und sogar die Psychologie der Experten selbst.“

„Was soll man da bloß machen …?“

Kordowin zog ein Tuch aus seiner Jackentasche, polierte gemächlich die Brillengläser und setzt die Brille wieder auf – dem Toten Leben einzuhauchen. Mit unverhohlener Zufriedenheit betrachtete er seinen Kunden. Er hatte hervorragende Arbeit geleistet: Sein Gegenüber war wie gewünscht am Gefrierpunkt erstarrt. Jetzt konnte er ihn wieder auftauen und reanimieren.

„Was man da machen soll?“, fragte er zurück. „Schauen und sehen. Ich ziehe es vor, meine Schlussfolgerungen anhand der Malschicht zu ziehen. Sie ist untrüglich, vorausgesetzt, man ist imstande, sie zu lesen. Sie enthält alles: die Art zu malen, den emotionalen Rhythmus, den individuellen Pinselstrich, mit dem die Farbe aufgebracht wurde – alles, was für diesen, und zwar ausschließlich diesen Künstler typisch ist. Wissen Sie, das ist wie mit einem Spion, der sein Äußeres verändert hat: Die Form der Augenbrauen und der Nase, die Haarfarbe – alles ist verändert, aber er tritt immer mit dem linken Bein zuerst auf – das reicht. Das linke Bein wird ihn verraten. Allerdings kann man natürlich auch die Bedeutung eines naturwissenschaftlichen Gutachtens nicht völlig von der Hand weisen. Sie können es danach mit Fug und Recht in Auftrag geben. Ich schaue mir nur die Leinwand an und – ja, ich gehe davon aus, dass Falk der Urheber ist, ich erkläre gleich, warum. Aber bitte berücksichtigen Sie, dass es nur eine Vermutung ist, und zwar auf der Grundlage meiner Erfahrung, also meiner Intuition, oder noch genauer: meiner feinen Spürnase – entschuldigen Sie diesen plebejischen Ausdruck!“

Er lehnte sich im Sessel zurück, wobei er mit der linken Hand die auf seinen Knien stehende Landschaft festhielt.  

Nun war er mit der Ouvertüre fertig, hatte alle wichtigen Themen der Sinfonie mit dem Titel „Geburt einer neuen Venus“ erklingen lassen und konnte zu freieren Variationen übergehen. Er liebte diese unvermittelten Übergänge zu vermeintlich belanglosen Geschichtchen, zum Klatsch und Tratsch über große Leute, zu lehrreichen Begebenheiten, die jemandem widerfahren waren. Das erinnerte an das Vorspiel bei der Liebe, wenn jede hektische Bewegung das anwachsende süße Schmachten, das Inbesitznehmen stört. In diesem Fall ging es um ein Bild und nicht um eine Frau, aber es war dasselbe. Venus wurde geboren. Durch die Schaumwellen hindurch war schon ihr brauner, wirrer Haarschopf erkennbar. Außerdem musste der Kunde jetzt aufgerichtet werden, sonst bekäme er – ein nicht mehr junger Herr – einen Stich ins Kreuz. Und dann bräuchte er ganz sicher „Goldbart“ … 

„In den achtziger Jahren gab es in Moskau in der Lawruschinski-Gasse einen betagten Invaliden, der sich nur mit zwei Krücken vorwärtsbewegen konnte … Ja, bitte setzen Sie sich doch, Wladimir Igorewitsch, und entspannen Sie sich. Setzen Sie sich hierher, da können Sie Ihren Falk besser sehen. Also, da war dieser Alte. Er gehörte der Expertenkommission des Puschkin-Museums an. Nicht dem in der Wolchonka, sondern dem anderen, dem Literaturmuseum auf der Pretschistenka. Aber das ist unwichtig. Als das Museum wieder einmal ein Bild kaufen wollte, wurde natürlich die Kommission zusammengerufen, und alle Experten nahmen dazu Stellung. Nur der Alte schwieg. Er hatte als Letzter das Wort. Alle verstummten, und er beugte sich über die Rückseite der Leinwand und roch daran. Verstehen Sie? Er roch daran, sehr lange. Dann gab sein Urteil ab. Niemand wusste, was er an diesen alten Leinwänden gewittert hatte. Aber man vertraute seinem behaarten Nasenloch mehr als irgendwelchen Gerätschaften. Sie werden mir zustimmen, dass das recht wenig mit wissenschaftlichen Methoden zu tun hat. Es ist die reine Intuition eines Kenners. Aber weder den Kunsthändlern noch Sammlern wie Ihnen werden unsere Vermutungen viel nützen. Sie fordern eindeutige, bejahende Herleitungen, ist es nicht so? Ich sehe doch, wie aufgeregt Sie sind, wie sehr Sie hoffen, dass ich die Urheberschaft von Falk anerkenne. Rücken Sie einmal ein Stück näher …“  

Der Experte erhob sich, schob die Flasche und die Gläser beiseite und legte das Bild flach auf den Couchtisch, der durch die geöffnete Balkontür gleichmäßig vom morgendlichen Sonnenlicht beschienen wurde.

„Schauen Sie, was für ein hervorragendes Licht, solange die Sonne noch nicht ganz aufgegangen ist. Nicht umsonst habe ich mich mit Ihnen zu dieser frühen Stunde verabredet.“ Er zog eine Lupe aus seiner Tasche. „Übrigens braucht man nicht einmal eine Lupe“, sagte er dabei. „Hier, sehen Sie selbst. Ich werde Ihnen jetzt ganz genau meinen Gedankengang schildern und mache Sie, wenn Sie so wollen, zum Komplizen, zum Koautor der Expertise. Also, mein erster Eindruck: Die Leinwand ist in einem ordentlichem Zustand. Ich gehe von einer fertigen Fabrikgrundierung aus. Im Unterschied zu Kontschalowski beispielsweise, der seine Leinwände immer selbst grundierte, benutzte Falk gern fertige sowjetische Leinwände aus Fabriken in Leningrad oder Podolsk, auch hatte er nichts gegen französische, aber das war vor dem Krieg. Auch der Rahmen ist original, ebenfalls alt, aus den vierziger Jahren. Woran man das sieht? Beide sind gleichmäßig unter der Lichteinwirkung gealtert. Und es gibt natürliche Verunreinigungen. Hier, an der unteren Leiste des Rahmens befindet sich besonders viel Staub und Schmutz – sehen Sie selbst. Ganz zu schweigen vom Fliegendreck … Die Fliegen haben ganze Arbeit geleistet, aber sie sind in diesem Fall unsere Verbündeten. So können wir feststellen, dass die Leinwand nicht erst gestern auf den Rahmen gespannt wurde. Nun, dann weiter – die Malschicht …“

Er streckte sich ein wenig, zog vor Schmerz in der Hand die Stirn in Falten und massierte sich vorsichtig das Handgelenk.

„Soll ich Ihnen sagen, Wladimir Igorewitsch, worauf die technischen Experten als Erstes achten, wenn sie die Proben wählen? Auf die Geschmeidigkeit der Farbschicht. Sie stechen eine Nadel hinein und sagen sofort: ‚Das wurde gestern gemalt.‘ Was machen wir in unserem Fall? Es ist erkennbar, dass das Bild vor Kurzem einer behutsamen und äußerst professionellen Restaurierung wegen Schäden an der Malschicht unterzogen wurde.“  

„O ha, wie haben Sie das bemerkt?“, rief der Sammler begeistert. „Da ist ja gar nichts zu sehen. Man hat mich über die Restaurierung informiert, aber ich konnte nichts …“

„Schauen Sie genauer hin …“ Der Experte führte die Lupe über die Leinwand: Durch das Vergrößerungsglas wölbte sich wie ein Stück Lebkuchen der Dachfirst hervor. „An zwei Stellen: hier … und hier … wurde ‚gekittet‘, das heißt, man hat Grundierung aufgetragen und diese bemerkenswert genau getönt. Aber die Farbe ist … mh … oberflächlicher, viel frischer, sehen Sie das nicht? Weiter – ein natürliches, leichtes Krakelee; hier: diese feinen Risse, das alles entspricht den zeitlichen Bedingungen und den für Falk typischen Beschädigungen. Man könnte meinen, der Zustand des Bildes entspricht völlig seiner Provenienz. Aber!“ 

Mit einer lehrerhaften Geste hob er den Zeigefinger und wartete eine winzige, strenge Pause ab.  

Dann fuhr er fort: „Alte Leinwand kann man beschaffen; Krakelee, das verhältnismäßig ‚jung‘ ist, kann man leicht fälschen. Viel wichtiger ist die Malschicht selbst, ihr Leben … Schauen Sie einmal genauer hin. Was sehen wir hier? Eine beeindruckende, vielschichtige Malerei – so etwas lässt sich nicht so leicht fälschen: Die Nuancenskala des Graus und des Grüns ist unglaublich komplex. Falks Witwe Angelina Schtschokin-Krotowa schrieb irgendwo, sie habe ihn eines Tages gefragt: ‚Denkst du dir diese riesige Vielfalt von Grün-Abstufungen etwa selbst aus?‘ Schauen Sie her – können Sie es erkennen? Rücken Sie doch etwas näher, genieren Sie sich nicht – schauen Sie: Bei den oberen Schichten ist die Arbeit des Malspachtels genauso gut erkennbar wie die Arbeit des Pinsels. Das ist typisch für Falks Art, die Leinwand auszufüllen. Der Busch im Vordergrund ist breit und sehr allgemein angelegt, der Blick des Betrachters gleitet darüber hinweg und konzentriert sich auf den Zaun. Vom Stand der Natur auf dem Bild kann man auf einen Herbstbeginn schließen, die Erinnerungen der Witwe bestätigen das. Sie erzählte, der Sommer war in jenem Jahr jäh vorbei, kalter Regen setzte ein – auch das ist eine Bestätigung für die Echtheit des Bildes. Schauen Sie, die gesamte Landschaft scheint in der Luft zu vibrieren, die Farbschicht verdichtet sich an einigen Stellen der Leinwand … hier … und hier … und hier … zu sehr feinen Gerinnseln.“      

Vorsichtig und feinfühlig wie ein Blinder strich er mit den Fingerbeeren beider Hände über die Leinwand. Dann lehnte er sich zurück und lächelte breit, wobei sich die kindlich arglosen Grübchen in seinen Mundwinkeln vertieften: „Erinnert Sie die Oberfläche an etwas? Ja? Zum Beispiel an ein Mosaik …?Vielleicht interessiert Sie das: Um die Farbschicht nach einer teilweisen Austrocknung aufzubessern, rieb Falk die Oberfläche der Leinwand immer mit Knoblauch ab – um die obere Kruste aufzuweichen. Seine Schwägerin Alexandra Wenjaminowna Asarch-Granowskaja erzählte einem meiner Freunde, der sie in ihrem hohen Alter oft aufsuchte, ihr sei eines Tages übel geworden vom strengen Geruch in der Wohnung, sie hatte eine Knoblauchallergie. Sie war diesem Geruch nachgegangen und hatte auf dem Balkon ein mit Knoblauch abgeriebenes Bild entdeckt. Und auch wenn seit der Entstehung unserer Landschaft an die sechzig Jahre vergangen sind, würde unser alter Herr, der betagte Invalide aus der Lawruschinski-Gasse, diesen längst verflogenen Geruch mit seinem unglaublichen Zinken erschnüffeln. Vielleicht gelingt es? Beugen Sie sich etwas tiefer …“  

Der neugierige Wladimir Igorewitsch beugte sich gehorsam
vornüber und näherte sein Gesicht vertrauensvoll der Leinwandober­fläche – so streben wollüstig zitternde Lippen ihrem Objekt der Begierde zu. Dann sog er geräuschvoll die Luft durch die Nase ein. Auf seiner grau-glänzenden Glatze war die sternenhimmelartige Ausbreitung tiefroter Pigmentflecken zu sehen.

„Mein Gott …“, sagt er erregt mit stockendem Atem, „ja wirklich … das riecht noch ein bisschen! Wissen Sie, ich habe das schon in der Nacht bemerkt. Wo kommt hier bloß der Knoblauch her, dachte ich.“

Er sah erschüttert aus, überwältigt … und frohlockte bereits. 

„Nein, warten Sie“, Kordowin stoppte ihn mit seiner ausgestreckten Hand im blauen Strickhandschuh. „Wo bleibt Ihre Sorgfalt, Kollege? Und dann wollen Sie noch ein Honorar! Wir sind noch nicht fertig. Also … Wiederholen wir noch einmal, auf diesem Bild dominiert Robert Falks Lieblingsfarbspektrum: Grautöne verschiedener Abstufungen – von gelb-grün-grau bis violett-grau-perlweiß. Dieses allgemeine Grau-Hellbau-Ocker-Spektrum wird an zwei Punkten aufgebrochen: vom smaragdgrünen Strauch hinter dem Zaun und dem roten Dach des Hauses … Übrigens handelt es sich hier um das ehemalige Haus eines Geistlichen mit einem riesigen Garten, jahrhundertealten Linden, einem baufälligen, verglasten Vorbau … das alles kann man in den Erinnerungen der Witwe Angelina Wassiljewna nachlesen. Bei genauer Betrachtung sieht man: Diese verschiedenen Grün- und Rotabstufungen sind über die gesamte Leinwand verstreut, wie ein Echo auf die grundlegenden Farbakkorde. Auch das ist typisch Falk: diese bewundernswerte malerische Geschlossenheit trotz der höchst komplizierten Farbabstufungen … Ich sehe, Sie sind erschöpft?“

„Aber nein, kein bisschen!“, rief der Dicke hitzig. „Ich genieße, ich …!“

„… nun, dann noch etwas. In der Ecke der Leinwand, hinter dem Zaun, ist mit einem schwerelosen, aber lebendigen, weißen Pinselstrich eine kleine Taube gezeichnet, sie sitzt da und plustert sich im feinen Nieselregen auf“.

„Ein Taube, tatsächlich!“, der Sammler schien gerührt, zog die Stirn in Falten und schaute konzentriert auf die Landschaft. „Ist das möglich? Ich habe sie anfangs gar nicht bemerkt.“

Und so ging der Sommer dahin, hat ein Dichter dieser Zeit geschrieben … Wir sind fertig, Wladimir Igorewitsch!“

Kordowin lehnte sich im Sessel zurück, nahm seine Brille ab und massierte sich müde die halb geöffneten Lider mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand.

„Akademisch gesprochen ist das mein persönliches Expertenurteil, das sich auf eine sorgfältige Inspektion und Analyse der Malschicht des Bildes stützt. Oder wie wir sagen würden: Selbst die ausgekochten Burschen in einem geheimen Schuppen irgendwo in Dalijat al-Karmel werden Ihnen ein solches Gemälde nie und nimmer zusammenflicken. Die werkeln auch eher an Kandinskys und Malewitschs herum, die lassen sich leichter fälschen. Aber einem solchen Maler sind sie einfach nicht gewachsen, nein … Sie können natürlich gern noch ein solides Institut mit einer umfassenden Expertise beauftragen, die haben spezielle Apparate … Wie sagt man? Des Guten ist es nie genug. Aber ich gehe davon aus, dass die Ihnen nichts anderes sagen werden. Halten Sie Ihren Falk gut fest, Kollege!“

„Un-glaub-lich!“

„Keineswegs, mein lieber Wladimir Igorewitsch. Das alles sind nur Erfahrungen eines recht langen Lebens. Mein Onkel Sjoma aus Winniza pflegte in solchen Fällen zu sagen: ‚Willst du etwas wissen, dann frag einen Kenner und keinen Gelehrten.‘“ 

„Aber Sachar Mironowitsch, Sie sind doch noch ein junger Knabe!“

„Nun ja, wenn man das fünfte Jahrzehnt als Knabenalter bezeichnen will, dann sollten wir mindestens Hundertzwanzig werden. Aber – ich habe es ganz rasend eilig. Warten Sie – ich muss ja noch die Expertise schreiben, mit dieser blutüberströmten Hand. Hören Sie, Wladimir Igorewitsch … hier ist mein Briefbogen, mit meinem Briefkopf … würden Sie vielleicht ein paar Worte schreiben? Ich diktiere sie Ihnen, mein Lieber. Und dann unterschreibe ich mit der linken Hand, sie ist die Erste Stellvertreterin meiner rechten. Und die Fotografie der Arbeit wird auch unterzeichnet, wie es sich gehört.“

„Natürlich, selbstverständlich.“ 

Der Dicke legte vorsichtig den ihm anvertrauten fliederfarbenen Blankobogen auf den Tisch. Das bekannte Selbstporträt von El Greco trat darauf blass wie das Wasserzeichen auf einem Geldschein zum Vorschein, und oben auf dem Bogen prangte ein Briefkopf, der alle Ämter und Titel von Sachar Mironowitsch Kordowin aufzählte. Wie ein eifriger Zweitklässler hielt er sich bereit, alles haargenau nach Diktat aufzuschreiben.

„Alles ist schlicht und gehaltvoll wie ein Bibelvers“, sagte Kordowin. „Arm an Worten, aber reich an Sinn. Wir werden kein kunsttheoretisches Stroh dreschen. Schreiben Sie: ‚Landschaft‚ Trüber Tag Punkt Chotkowo‘, Größe 65 mal 80 Zentimeter, nach Inspektion und Analyse der Malschicht …“

Die nächsten zehn Minuten tat er nichts anderes, als ausgiebig kunsttheoretisches Stroh zu dreschen. Hier wurde alles aufgezählt, was er zuvor gesagt hatte, allerdings übersetzt in die gängige Sprache der Expertisen aller wissenschaftlichen Restauratorenverbände.

„… ausgehend von den obigen Ausführungen halte ich diese Arbeit für ein echtes Bild des Künstlers Robert Rafailowitsch Falk, das er, wie auch alle anderen bekannten Gemälde dieser Zeit, im August 1946 in Chotkowo gemalt hat. Das ist alles. Geben Sie mir den Stift.“

Er beugte sich über den Briefbogen und – setzte nicht einfach eine Unterschrift, sondern führte wie immer mit kalligrafisch gleichmäßigen Buchstaben fein und sorgfältig seinen vollen Namen aus.

Dann richtete er sich auf: „Na, ist meine Linke nicht toll? Ich werde sie bald zu meiner Rechten ernennen.“

„Warten Sie!“ Wladimir Igorewitsch verschraubte entschlossen seine Handflächen ineinander. „Ich weiß, dass Sie es eilig haben, aber ohne dass wir angestoßen haben, kommen Sie mir nicht davon!“

„Da sage ich nicht nein, nur schnell muss es gehen. Zu meiner Schande mag ich ‚Courvoisier‘ …“

Geschäftig und mit leichter Hand goss Wladimir Igorewitsch den Cognac in die Gläser und reichte Kordowin eines von ihnen. 

„Auf Sie!“, lächelte dieser mit den Augen, hob das Glas und schwenkte die schwere, bernsteinfarbene Essenz leicht hin und her.

„Aber nicht doch!“, protestierte Wladimir Igorewitsch. Er war rot angelaufen, verschwitzt und erregt wie nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss. Ein sympathischer Kerl, ihm lag die Kunst, also unser verkommener Sumpf, tatsächlich am Herzen. Dabei drückte sein Gesicht eine begeisterte Gutgläubigkeit aus, und seine Warzen glühten vor Aufregung. Vielleicht hatte er seine Millionen tatsächlich mit eigenen Erfindungen verdient? Vielleicht hatte er niemanden umgebracht, ausgeraubt, hatte die Bäuche seiner Konkurrenten nicht mit einem glühenden Bügeleisen versengt?  

„Nicht auf mich, sondern auf Sie, Sachar Mironowitsch! Was war das gerade für ein Geschenk, Ihre Lehrstunde, mh? Die müsste extra bezahlt werden. Was für eine Generosität, erstklassig! Bei Ihrer Zeitnot hätten Sie mir auch in drei Minuten Ihre Expertise hinkritzeln und sich davonmachen können. Aber nein, Ihnen war die Zeit nicht zu schade, Sie haben sich meiner Leidenschaft angenommen. Immerhin war ich hinter Sarabjanow her, das gebe ich zu, der hat einen solchen Ruf in der Kunstwelt, man weiß ja auch warum. Aber dann hätte ich das Bild erst ausführen und dann wieder einführen müssen … das ist eine solche Qual, das macht keinen Spaß. Und dann sagte Maurice – ich kann mir seinen Nachnamen nicht merken, na, der aus der Perseus-Galerie, der dieses Bild ausgegraben hat –, der sagte zu mir, warum zum Teufel willst du zu Sarabjanow, wenn wir hier den Kordowin haben, einen Experten von internationalem Rang. Nun, und da habe ich Sie gleich angerufen. Und jetzt, nach unserer Zusammenkunft, bin ich einfach begeistert: Ihre Professionalität, Ihre Kenntnisse, und vor allem …“

„Das freut mich wirklich sehr“, sagte der Experte internationalen Ranges eilig und trank seinen Cognac aus. „Aber jetzt müssen Sie mich gehen lassen, mein lieber Wladimir Igorewitsch, sonst entwischt mir das Flugzeug. Mein Flug geht in drei Stunden!“

Der Dicke seufzte, umarmte ihn leicht an den Schultern und führte ihn zur Tür. Im Flur blieb Kordowin stehen, und bevor er seinen Koffer nahm, gab er ihm die Hand und sagte: „Ich mach’s wie Majakowski: links, links, links!“

„,Goldbart‘. Merken Sie sich: ‚Goldbart‘ vorm Schlafengehen und warm einwickeln!“ 

Feuriges Händeschütteln links-rechts. Dem Dicken war anzumerken, dass er ihn am liebsten aus vollem Herzen umarmt hätte. Nein, diese familiäre Begeisterung war wirklich zu viel des Guten. Aber eines fehlte. Dafür musste er den zerstreuten Professor spielen …

Mit sorgevollem Blick eilte er zur Tür.

„Sachar Mironowitsch!“, rief der Dicke und griff sich an die Schläfen. „Mein Gott! Und was ist mit dem Honorar?“

Beide schlugen sich an die Stirn und lachten laut los. Der Dicke sauste zu seinem Jackett, das über dem Stuhl hing, und wühlte in den Taschen links-rechts … Schließlich zog er einen Umschlag hervor und reichte ihn Kordowin. Dieser steckte ihn in die Tasche, ohne hineinzuschauen und nachzuzählen. 

„Na wir sind vielleicht Helden“, befand Wladimir Igorewitsch und schüttelte den Kopf, „wirkliche Helden!“

Als der Experte bereits die Klinke in der Hand hatte, berührte ihn Wladimir Igorewitsch bei der Schulter und hauchte eindringlich: „Nun schauen Sie doch noch einmal – ist es nicht schön? Es ist wirklich schön, oder?“

Kordowin drehte sich um.

Falks Landschaft stand auf dem Sofa, und im rauchigen Dunst des Morgens, der durch die geöffnete Balkontür drang, schimmerte das Bild mit seinen edlen Nuancen von Grün, Graugelb, Silber … Venus, geboren aus dem Schaum des Meeres. Des Toten Meeres, wohlgemerkt. War es also eine totgeborene Venus

„Es ist nicht schön“, sagte er nachdrücklich, „sondern un-über-treff-lich!“  

Nachdem er den Koffer im Kofferraum verstaut hatte, zog er sein Jackett aus und löste die Krawatte von seinem verschwitzten Hals. Dieses Klima! Es war Anfang April, überall in Europa regnete es in Strömen, und hier steckte man das ganze Jahr über im Schwitzbad.

Er zog den verhassten, blauen Strickhandschuh von den Fingern und warf ihn angewidert auf den Rücksitz. Na schön … Er durfte nicht vergessen, auf dem Weg bei den Beduinen einen Kaffee zu trinken. Nirgends auf der Welt – weder in Italien oder Griechenland noch in der Türkei – konnte er einen solchen Kaffee mit Kardamom trinken wie an diesem Strand, an diesem eilig zusammengezimmerten Pavillon.

Na dann, mit Gott … Meine Güte, wie das Salz im Sonnenlicht blendete. Wenn man es genau nahm, war es gewaltiger, glatter Kobalt. Und der Falk … nun ja, der Falk war schön … Wie auch nicht? Immerhin hatte er ihn eigenhändig gemalt, er, Sachar Kordowin. Mit seiner Arthritishand. 

Abgesehen von der Hongkong-Grippe, mit der er sich in der dritten Klasse angesteckt hatte, war er überhaupt nie krank gewesen.

Die jordanischen Berge, die biblischen Berge Moabs, lagen in einem rosigen Nebelschleier.

Man wollte sich die nicht vorhandene Brille putzen oder mit dem Finger den Film von dieser fliederfarbenen Bergkette kratzen, wie bei den Abziehbildern seiner Kindheit. Die hatte ihm Onkel Sjoma immer in der Spielzeugwarenabteilung des Kaufhauses von Winniza gekauft, das neben dem Kalitscha-Basar lag („Das Kind muss was zu tun haben, egal was!“). Damit war er immer einen ganzen Abend beschäftigt gewesen. 

In einen tiefen Suppenteller wurde warmes Wasser gegossen. Das Bildchen, das trübe war, als sei es aus Zelluloid (das Haus hinter dem Zaun, der Baum, der Vogel auf dem Dach – ganz wie bei Falk!), wurde mit der Schere sorgfältig aus dem Schnittbogen herausgetrennt und im Wasser versenkt: Es nährte sich. Dann schüttelte man die Tropfen ab, legte es schnell auf eine saubere, trockene Seite des Albums und klebte es schnell und akkurat mit „dem Rücken nach oben“ auf, damit es gut zufasste. Und schließlich kamen die Fingerbeeren zum Einsatz – die des Zeige- und des Mittelfingers, sie waren auch jetzt noch die sensibelsten und fleißigsten. Mit leichten, kreisenden Bewegungen lösten die Finger die oberste Papierschicht … Man musste zum Bild vordringen, die schlafenden Schönheit durch das feste, trübe Häutchen erreichen, die nassen Papierfasern vorsichtig, mit angehaltenem Atem abrollen … Und dann kam im Kern auf einmal die stählerne Farbe eines Jagdflugzeugschwanzes zum Vorschein! „Guckt euch das an, was dieses Kind macht! Es hat Fingerchen wie ein kleiner Strauchdieb! Der muss in die Kunst!“ 

Nun ja, eigentlich war es der gleiche Prozess wie die Freilegung eines Gemäldes, auch hier hielt man den Atem an, streckte wie ein Kind die Zungenspitze heraus und verharrte in Erwartung eines Wunders.

Er fuhr nicht schnell, sondern gemächlich, freute sich am Wechselspiel der smaragd-kobaltblauen Farbtöne rechts und umfuhr die von links auf die Straße ragenden Elefantenknie und kantigen Rippen der karstigen Felsen. 

Er hatte Zeit. Sein Flugzeug ging erst in der Nacht.

Von Minute zu Minute, je nachdem, wie weit die Sonne über dem Meer aufgegangen war, änderten sich das Licht, der Zustand der Luft und die Farbe des Wassers: Anfangs war es ein zartes Türkis mit langgestreckten Adern dunklen Malachits, dann eine azurblaue, glatte Fläche, die sich immer mehr zu einem smaragdenen Grün verdichtete. Schließlich leuchtete das Meer als reines und klares, saphirfarbenes Massiv blendend vor dem Hintergrund der aschgrau-rosafarbenen Berge auf.

 Also wirklich, warum habe ich Shuka eigentlich nie einen Fächer mitgebracht, kam ihm auf einmal in den Sinn. Immer nur Tücher, irgendwelche Souvenirs, Broschen und Perlen. Aber ein Fächer war nie dabei. Ich dachte, das ist zu banal, „Zigeunerkram“, wie schade. Bei dieser Hitze könnte sich die alte Dame wenigstens ein kleines Lüftchen um die Nase fächeln. 

An der Straßenkreuzung bog er rechts zum Meer ab, fuhr etwa zweihundert Meter über eine schmale, befestigte Straße zu einem hügeligen Platz mit Schlaglöchern, parkte das Auto und stieg aus. Dieser halbwilde Strand war erst vor Kurzem erschlossen worden, man hatte ihn mit einem Staketenzaun umzogen und einen Bretterweg bis zum Wasser gezimmert. Und das verlassene Café war von einer geschäftstüchtigen orientalischen Familie übernommen worden.

Auch jetzt war das hier eine zauberhafte Oase – brauchte man bei uns etwa lange, um ein gesegnetes Paradies des Maghreb einzurichten? Ein paar bunte Kissen lagen auf den Holzbänken, Glasvasen standen auf den Plastiktischen, und an den Wänden hingen perlenbestickte Flickenteppiche mit kleinen Spiegeln. Hauptsache, es war grell, leuchtend und fesch, denn den Ton gab hier der größte und glitzernde, durch und durch grün-blau schimmernde und spiegelnde Überwurf am Ufer an …    

„… aber heiß muss er sein!“ Streng hob er den Zeigefinger, und der junge Mann ging weg, um den Kaffee zu brühen. Und er nahm endlich den Anruf auf seinem unablässig tönenden Mobiltelefon an.

„Bist du am Flughafen?“ – Irina.

„Ja, meine Liebe. Entschuldige, ich habe bei diesem Lärm das Klingeln nicht gehört. Ich bin gerade bei der Passkontrolle.“

Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er durch das geöffnete Fenster, wie die schwere, geleeartige Wasserhaut funkelnd aufloderte.

„Ich habe mich heute Morgen schlecht benommen?“, erkundigte sie sich unsicher.

Er lächelte, und zwar so, dass sie das Lächeln hören konnte.

„Niemals und unter keinen Umständen!“, sagte er fest. „Du bist so zärtlich und rührend. Weißt du, wer du bist? Meine ‚paloma blanca‘.“

„Wie, du Spaßvogel? Was für eine Blaupalme?“

„Blanca paloma, meine Liebe, das ist Spanisch und heißt ‚weiße Taube‘ …“   

Immer noch lächelnd nickte er dem jungen Mann zu, dankte lautlos für den Kaffee und bedeutete ihm mit an den Mund gelegtem Zeigefinger, er solle ihm Nüsse oder Ähnliches bringen …

„Diese Wortverbindung ,paloma blanca‘ – hörst du mich? – hat außerdem eine religiöse Bedeutung. So nennt man die Muttergottes aus der kleinen Stadt El Rocío, das liegt in der Nähe von …“

„Na na, jetzt fängt der Torero an zu singen …“

„… in der Nähe von Sevilla. Jeden Frühling, im Mai oder Juni kommen die Pilger zum Pentecostés, das ist Pfingsten. Eine richtige Prozession ist das. Und ein atemberaubendes Schauspiel, weißt du: Alle tragen Nationalkostüme, tanzen und singen – die ‚Sevillana‘, zarte Flötentöne winden sich, flott schlagen die Trommeln: tr-r-r-r-r… tr-r-r-r-r… tra-ta-ta-ta-ta …!“  

„Ist ja gut“, sagte sie zufrieden. „Ich komme gerade aus der Sauna, gleich holen sie mich zur Massage. Geh zum Teufel, flieg in dein Spanien …“

Er klappte sein Mobiltelefon zu und nippte am heißen und zähflüssigen Kaffee, er war der beste auf der Welt. Er erinnerte sich an den im Regen aufgeplusterten, kleinen Vogel in Falks Landschaft. Ein feines, kleines Detail. Damit zeigte er ein Lächeln, ein unnötiges Draufgängertum, es war natürlich ein riskantes Spiel. Aber auch sein geheimes Markenzeichen.

„Übertreib es nicht mit deinen weißen Tauben, Don Zacarías“, sagte Margot immer, wobei sie energisch ihre rotbraune Mähne und ihr Dreifachkinn schüttelte.  

Er schaute auf die vereinten Strahlen der langen Sonnennadeln im zähen Blau des Meeres und fühlte Erschöpfung und Glück – so war es in seiner Jugend nur mit seinen liebsten Frauen gewesen, und wahrscheinlich empfanden große Künstler nach glänzenden Premieren ebenso. Erschöpfung, Glück und das stolze Gefühl des Beherrschens eines winzigen, aber großartigen Teils des menschlichen Genius …

Das Geld war nebensächlich. Vielleicht wird sich auch der künftige Messias nach der Erweckung der Toten so erschöpft glücklich fühlen … Und Sie, Robert Rafailowitsch, sind Sie glücklich dort, in Ihrer jenseitigen Erscheinungsform? Heute hat schließlich ein neues Meisterwerk von Ihnen das Licht der Welt erblickt, und jeder seiner Quadratzentimeter bezeugt unwiderlegbar Ihre Urheberschaft. Es lebt und wird leben – wenn auch anfangs nur in einer Privatsammlung in der Villa des verehrten Wladimir Igorewitsch. Aber früher oder später stellen seine Kinder oder Enkelkinder das Bild bei einer Auktion aus, ganz sicher, denn zu diesem Zeitpunkt (wenn nicht nur die Rechtsanwaltswitwe ins Jenseits abgewandert ist, sondern auch ich unauslöschliche Farben aus Pigmenten des Paradiesgartens reibe) – zu diesem Zeitpunkt wird ein Falk im Preis um Hunderttausende kecke Eurolein steigen, und es wird ein echter Falk mit einer realen Herkunft sein.  

Und dann, mein Engel, mein Hüter und Schutzpatron eines ganzen Schwarms weißer Tauben, die ich von eigener Hand freigelassen habe – dann stehe dem Experten eines würdigen Museums bei den Verhandlungen jener künftigen Auktion bei.

Er nickte dem jungen Mann zu, und dieser ging zur Kasse, um die Rechnung fertig zu machen.