LESEPROBE | Die fremde Sprache sei mir eine Hülle | Sergei Awerinzew

Die Solidarität in dem verfemten Gott:
Erfahrungen der Sowjetjahre als Mahnung für Gegenwart und Zukunft

In vielem war der Sowjetkommunismus unaufrichtig. Aber in einer Hinsicht war er völlig aufrichtig, besonders in seiner ersten Periode, d. h. in den 20er und 30er Jahren. Ich meine den »militanten Atheismus«, der übrigens in der Frühzeit noch nicht durch das Fremdwort »Atheismus«, sondern auf gut Russisch »besboshije«, d. h. »Gottlosigkeit« hieß. »Besboshije«,  »besboshnik« ist im System der russischen Lexik ein extrem drastisches, lebendiges, an Assoziationen überreiches Wort, das zugleich der Sakral- und Bibelsprache und dem derben und kernigen Alltagsidiom angehört, malerisch wie ein Schimpfwort. Ein »besboshnik« kann eigentlich kein Atheist sein, sondern nur ein Fanatiker und ein Frömmler des Antitheismus, der, wie es einem Frömmler ziemt, seinen Religionskrieg führt – gegen alle Religion oder, um die Phraseologie jener Zeit genauer wiederzugeben, gegen Gott selbst. Man veranstaltete förmliche Gerichtsverhandlungen, bei denen Gott immer zur Todesstrafe verurteilt wurde. Gott selbst wurde verfemt. Das Schicksal jener, die an Gott glaubten, erschien in diesem grandiosen, superkosmischen Kontext als eine nicht zu beachtende Kleinigkeit.

Es sei wie es wolle – diese an sich löbliche Aufrichtigkeit dem Glauben an den Gott Abrahams gegenüber kann nicht geleugnet werden. Anders als der wesensgemäß christentumsfeindliche und doch die »Gott-mit-uns«-Gesinnung vortäuschende Nationalsozialismus, zeigte der Sowjetkommunismus eine vorbehaltlose Ergebenheit dem Prinzip des oben genannten militanten Atheismus gegenüber und erklärte der Religion, jeder Religion, den Totalkrieg. Heinrich Böll erwähnte einmal, wie schwer es ihm war, in der Hitlerzeit die uniformierten SS-Männer auf der Kommunionbank in einer katholischen Kirche zu sehen. Gott sei Dank wurden wir in der kommunistischen Zeit von derartigen Erlebnissen ziemlich gut beschützt. Die professionellen Menschenfresser erschienen bei uns nicht als Kommunizierende, sondern, viel ehrlicher, eben als »Gottlose«.

Wir – und mit diesen »wir« meine ich nicht einfach »wir russische Gläubige« oder überhaupt »die Gläubigen in der damaligen Sowjetunion«, sondern gerade uns Ältere, die noch die Stalin-Ära mit eigenen Augen gesehen haben – wir besitzen eine ganz besondere, einzigartige, unschätzbare Erfahrung. Der Blick des Fürsten dieser Welt hat uns einmal durchaus unverhüllt und unvermittelt angeschaut. Wir haben diesen Blick vernommen. Die tausendjährige Illusion einer »christlichen«, einer »orthodoxen« Nation war vor unseren Augen in Trümmer zerbrochen. Alles, was an christlicher Tradition zerstörbar war, wurde skrupellos, planmäßig, im größten Stil zerstört, – und nur der nackte, auf sich selbst gestellte Glaube war imstande, zu überleben. O, wie überzeugend ist der Glaube, wenn er ganz auf sich selbst gestellt ist, wenn ihm der Boden entzogen wird, und die Flammenzungen von Pfi ngsten nur noch in der Luft emporschlagen können – »omnia possideat, non possidet aera Minos«! Wir hatten die Möglichkeit, auf eine sehr drastische Weise das zu erleben, was einmal in der so genannten »Schrift an Diognet«, einem recht ergreifenden literarischen Denkmal aus dem 2. Jahrhundert, formelhaft ausgedrückt wurde:

»Weder das Land, noch die Sprache, noch die Bräuche unterscheiden die Christen von ihren Mitmenschen. Die Bürgerpfl ichten teilen wir mit den Einheimischen, das Angefochtensein aber mit den Fremdlingen. [...] Jede Heimat ist uns wie ein fremdes Land...« Man soll darüber weder beschönigend noch larmoyant sprechen. Eine Zerstörung ohnegleichen hat die Werte vernichtet, die für immer unwiederbringlich dahin sind. So viele Gotteshäuser, vor allem unzählige schöne Kirchen Russlands, aber auch Synagogen und Moscheen wurden in die Luft gesprengt, so viele kostbare Ikonen sind in Flammen aufgegangen; vor allem aber wurde, um es mit den unsterblichen Worten von Andreas Gryphius auszudrücken, »auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen«. Ja, die Massen-Apostasie, durch banalste Schwäche verursacht, macht ein ganz besonderes, unvergessliches Phänomen aus. Es gab Hunderte und Tausende von Glaubenshelden, von Märtyrern und Bekennern, aber Millionen von Konformisten, von Apostaten und auch Verrätern, und keiner, der es von innen her erfahren hat, kann darüber billige Urteile fällen. Wenn die Verfolgung noch als etwas Neues, Tragisches, ja im gewissen Sinne Sensationelles ankommt, bleibt es relativ leicht, sich zusammen mit den ringsumher sich meldenden Gleichgesinnten zu tapferem Widerstand zu entscheiden. Aber wenn die Repressalien mehrere Jahrzehnte andauern und ganz zum banalsten, selbstverständlichsten Alltag werden, wenn die kommenden Generationen in diese Atmosphäre von Anfang an hineingeboren werden, dann geht das, was G. K. Chester71 ton »the innocence of anger and surprise« genannt hat, die »Unschuld von Empörung und Erstaunen«, d. h. die Spontaneität der menschlichen Reaktion auf das Widermenschliche, unaufhaltsam verloren. »And lost is all the innocence of anger and surprise« – mit diesen Worten wird der Zustand, der am meisten menschen-unwürdig ist, von dem englischen Dichter treffend gekennzeichnet. Als ich etwa zehn Jahre alt war, hat mir eine alte Bauersfrau über das Leben in ihrem heimatlichen Dorf erzählt. Nebenbei teilte sie mir mit, wie zur Zeit, da die dörfl iche Kirche noch nicht geschlossen und zerstört worden war, die lokalen »Komsomolzen« (Mitglieder des kommunistischen Jugendverbandes) am Kirchenweihfesttag auf den Glockenturm gestiegen sind, um die Prozession da unten, d. h. ihre eigenen Eltern, Großeltern usw., von oben her mit ihrem Urin zu besudeln. Wenn ich heute darüber nachdenke, so verblüfft mich nicht so sehr die Scheußlichkeit des Geschehens selbst als der Tonfall unseres Gesprächs darüber. Weder die alte Frau, die ihrerseits ihren Glauben durchaus bewahrt hatte, noch ich, ein Junge aus einer sehr harmonischen Gebildetenfamilie, der zu Hause nur die schönsten Erfahrungen vom gegenseitigen Respekt meiner Eltern mitbekam, keiner von uns beiden fühlte und zeigte Erstaunen und Empörung. Traurig – o ja, traurig waren wir beide, unglücklich, deprimiert; auch heute, wenn ich es Ihnen erzähle, fühle ich die lahme, hilfl ose Trübsal jener Stunden nach. Vielleicht werde ich sie bis zu meiner Todesstunde in mir tragen. Da waren wir zusammen, eine alte Frau, ein Kind – schon unser Alter, Alter der Hilflosigkeit, mahnte uns, dass wir alle beide angesichts der unbesiegten Unmenschlichkeit nichts und abermals nichts zu tun imstande waren. Aber weder Erstaunen noch Empörung waren möglich geblieben. Wird etwa jemand erstaunt und empört sein über eine Geschichte aus dem Alltagsleben? Und eine Alltagsgeschichte war es, eine Geschichte aus dem Leben der langen, scheinbar unendlichen sowjetischen Jahrzehnte; als solche wurde sie erzählt und vernommen; und ich, ein unerfahrener Junge von zehn Jahren, war schon erfahren genug, um genau zu wissen, dass der Alltag außerhalb unseres Familienkreises – und das hieß, außerhalb der Türen unseres Zimmers in einer wohnheimartigen, mit verschiedensten Familien voll gestopften Sowjetwohnung, – gerade so und nicht anders beschaffen ist. So ging es: eine Zerstörung nicht nur des Glaubens, sondern auch der einfachsten Achtung und Selbstachtung. Zugleich aber schienen die Grenzen zwischen den Gläubigen, zwischen den Konfessionen und mindestens teilweise auch zwischen den Religionen, in der Grenzsituation der allgemeinen Offensive gegen den Glauben in Frage gestellt zu sein, ja unwirklich zu werden. Gerade die Herausforderung der Sowjetzeit gab eine Chance, den Weg zurück zum Eigentlichen, zur Sache selbst, und dadurch zur verlorenen Einheit zu finden. Bekanntlich hat der russische orthodoxe Philosoph Lew Karsawin, der den Katholizismus ziemlich stark kritisiert und seine Kritik niemals widerrufen hat, vor seinem Tod im GULAG aus den Händen eines katholischen Priesters die Heilige Kommunion empfangen. Es ist ein berühmter Fall. Ich werde Ihnen eine andere Geschichte aus der Zeit des stalinschen GULAG erzählen, wie ich sie selbst in Lettland von dem Protagonisten dieser Geschichte vernommen habe. Ein damals junger, jetzt alt gewordener katholischer Priester lettischer Herkunft hat im GULAG einen Landsmann, einen älteren Letten lutherisch-evangelischer Konfession getroffen; er verstand, dass der Alte dem Sterben nahe war, und bot ihm die Heilige Kommunion an, natürlich ohne Vorbedingung irgendeines konfessionellen »Übertrittes«. Der Vorschlag wurde angenommen, und zwar mit großer Freude. Nun fühlte sich der katholische Priester verpflichtet, den Kommunizierenden nach den Artikeln des Apostolikums (des apostolischen Glaubensbekenntnisses) zu fragen; also, musste es auch zum Artikel über „die heilige katholische Kirche” („credo sanctam Ecclesiam catholicam”) kommen. Natürlich ist das Apostolikum auch in der lutherisch-evangelischen Konfession angenommen, aber der alte Laie hatte keine theologischen Kenntnisse, also bestand die Gefahr, dass er das Wort »katholisch« im konfessionellen Sinne verstehen werde, als ein Beweis, dass er doch heimtückischerweise zum Übertritt genötigt werde. Darum hat der Priester seine Frage folgenderweise umformuliert: „Glaubst du an die Kirche, die vom Heiland begründet wurde?” Im Nu waren die konfessionellen Unterschiede zwischen diesen Letten mindestens für einen Augenblick verschwunden. Durch die schreckliche Wirklichkeit der Stalinzeit wurden sie beide zur primären christlichen Glaubenswirklichkeit zurückgewiesen, ja zurückgezwungen: Ecclesia Christi, die Kirche Christi. Die Tatsache, dass der katholische Priester aus dieser Geschichte, – ein aufrichtiger Gottesmann, den aus der Nähe für längere Zeit zu kennen mir immer eine große und unverdiente Ehre bedeutete, – eigentlich gar nicht »broad-minded«, gar nicht progressistisch, sondern eher altmodisch und konservativ gesinnt war, verleiht der ganzen Episode meines Erachtens noch größere Bedeutung. Sein Schritt von der konfessionalistisch verstandenen Identität der »sancta Ecclesia catholica« zur primären Identität der durch Christus selbst begründeten und gestifteten Kirche war keine liberale Geste einer freieren, einer „ökumenischen” Gesinnung, sondern einfach und allein Entschluss seines nackten Glaubens (und natürlich auch seiner mit dem Glauben verwachsenen Menschlichkeit).

Noch eine kleine Geschichte. In Moskau lebten zwei ältere Frauen, die ihr Leben lang sehr eng befreundet waren, obwohl die eine katholisch, die andere orthodox war. In der Stalin-Zeit verbrachte die Katholikin lange Jahre im GULAG; auch die orthodoxe Frau war von Heimsuchungen nicht verschont. Als nun am 7. Dezember 1965 die gegenseitigen Exkommunikationssentenzen des Jahres 1054 zwischen dem katholischen Rom und dem orthodoxen Konstantinopel durch Papst Paul VI. und den Patriarchen Athenagoras aufgehoben wurden, hat die orthodoxe Frau ihre katholische Freundin angerufen und ihr sehr lakonisch, aber feierlich gesagt: »O, ich beglückwünsche dich!« (Es war in der Sowjetunion nicht immer sicher, bei einem telephonischen Gespräch allzu viel zu sagen, die Gespräche wurden oft abgehört.) Und die andere hat nicht gefragt: »Wozu denn?« Sie verstand alles im Nu. Sie sagte nur: »Vielen Dank, und ich beglückwünsche dich auch!« So war es einst, und wir sind verpflichtet, das einst Gewesene um Gottes willen nicht zu vergessen. Wir müssen alle Anstrengungen machen, wieder und wieder die ganze Situation dieser »ökumenischen Begegnung« nachzufühlen, nachzudenken, nachzuerfahren. Denn sonst – ich fürchte mich, solch entsetzliche Worte auszusprechen, aber so liegen nun einmal die Dinge – sonst wird es wohl notwendig sein, uns alle in GULAG-artige Extremsituationen zu versetzen, auf dass wir mindestens in dieser Lage die Primärwirklichkeiten und die richtigen Grössenverhältnisse der Dinge zu erkennen imstande seien. Die kostbare Lehre wurde durch die Leiden der anderen erkauft, um uns angeboten zu werden. Es ist kaum zu verneinen, dass diese Ökumene des GULAG viel überzeugender erscheint als manche an sich durchaus notwendigen offiziellen ökumenischen Kontakte. Aber eigentlich habe ich kein Recht, den Todesernst solcher Episoden durch mein Wort zu beschwören. Nur die Dulder, die tapferen Bekenner selbst, die Menschen, die das Schwierigste auf sich genommen und ausgekostet haben, dürfen darüber sprechen. Im Vergleich mit diesen Frontkämpfern des Glaubens war ich immer eine Etappen-Person, nie vergesse ich das. Darum gehe ich zu einem bescheideneren, unpathetischeren Gegenstand über: zu meinen eigensten persönlichen Erfahrungen aus der Sowjetzeit.

Ich wurde in einer Gelehrtenfamilie geboren, die zwar weder kommunistisch noch atheistisch gesinnt war, aber viel vom Agnostizismus des vorigen Jahrhunderts, wenn nicht gerade vom Deismus der Aufklärungszeit behalten hat. Meine erste Kinderfrage: »Was ist Gott?«, wurde von meiner Mutter auf eine durch und durch deistische Art beantwortet: »Das höchste Wesen« (vgl. »Etre Suprème«)! Darum hatte auch ich in meiner Kindheit und Jugend zwar religiöses Interesse und ziemlich verschwommene religiöse Vorstellungen, aber keine kirchliche Praxis; ich war eben kein »praktizierender« Christ. Zur gleichen Zeit aber verschlang ich eine Unmenge religionsphilosophischer Literatur, die ich bei Freunden oder, durch ein Versehen der Behörden, in den Moskauer Bibliotheken und Antiquariatsbuchhandlungen aufzufinden imstande war (die Antiquariatsbücher waren bei uns damals sagenhaft billig, was als ein angenehmer Nebeneffekt einer unangenehmen kulturellen Situation zu erkennen ist). Natürlich las ich viele orthodoxe Russen; was ich aber heute hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass zwischen den Büchern, denen ich meine Bekehrung zur orthodoxen Praxis des sakramentalen und solidarischen Gemeindelebens verdanke, es auch katholische, evangelischlutherische, anglikanische Werke gab, auch die Werke des großen reformierten Theologen Karl Barth. Mit Begeisterung las ich Romano Guardini, Erich Przywara, Hans Urs von Balthasar, auch Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer, aber auch ein schlichtes, in der damaligen DDR erschienenes evangelisch-lutherisches Lehrbuch der praktischen Theologie. Mehr noch: unter den Denkern, die mir damals meinen Weg zur orthodoxen Kirche auf eine konkrete Weise gewiesen und erleichtert haben, muss ich auch den großen Deuter der jüdischen Tradition Martin Buber nennen: natürlich das Buch »Ich und Du«, aber vorerst wohl seine Betrachtungen über die »Leiblichkeit« der Bibel und über das Gottesvolk als »Leib«. Es war mir nützlich als Heilmittel gegen jenen deistisch geprägten Spiritualismus, der gerade die Leiblichkeit von Sakrament und Gemeinde verachtet. Wenn schon die Schrift so leiblich erscheint, wie Martin Buber es zeigt, dann lohnt es sich wohl, durchaus leiblich das sakramentale Gemeindeleben zu teilen und zu einer Pfarrei zu gehören! So hat mir Martin Bubers »Leiblichkeit« geholfen, das eucharistische »das ist Mein Leib« zu verstehen. Aber auch die bubersche Kritik der christlichen »Glaubensweise«, die scharf genug ist, aber immer in den Grenzen der intellektuellen Redlichkeit bleibt und darum kein Gift verspritzt, war mir eine rechtzeitige Mahnung, dass der Glaube, auch der christliche Glaube, als biblische »emuna«, kein bloßes Für-Wahr- Halten, sondern vor allem Treue zum Geglaubten sein soll. Die Leiblichkeit des Gotteswortes und des Gottesvolkes, die Leiblichkeit der verfolgten und verachteten Kirche erschien also als Raum der Treue, die auch auf eine leibliche Weise bezeugt sein soll.

So las ich Buber; ein Freund hat mir damals den Spaßnamen »Büberle« gegeben. Zu derselben Zeit aber, da jene Wende zur Leiblichkeit der Kirche in mir endlich reif wurde, suchte und fand ein junger, mir befreundeter Jude seinen Weg zum Glauben seiner Väter; und wir haben uns die Geheimnisse unserer zweifachen Bekehrung, zur Kirche bei mir, zur Synagoge bei ihm, gegenseitig anvertraut und fühlten uns einander wirklich nah. Ich erinnere mich an eine Stunde am Tisch seines ungläubig gebliebenen Vaters: Moskauer Intellektuelle, die alle gar keine konkreten Erfahrungen des Glaubens besaßen, plauderten in etwas snobistischer und selbstsicherer Weise über religionsphilosophische Themen, wir beide aber schwiegen bei dem Geplauder und sahen einander an mit demselben Gedanken: Du und ich, wir wissen »de usu«, worum es geht, und darum schweigen wir... Einmal besuchten wir ihn, meine eben damals zur kirchlichen Praxis bekehrte Frau und ich, bei einem koscheren Mahl, und waren tief beeindruckt von der Würde des Ritus, jener Würde, die uns verständlich und vernehmbar erschien nicht trotz der Tatsache, dass wir schon beide praktizierende orthodoxe Christen waren, sondern eben deshalb. Natürlich auch deshalb, dass alles in einem zum gegenseitigen Verständnis kraftvoll antreibenden Kontext geschah: Es blieb immer noch nicht sicher, nicht gratis, es kostete mindestens etwas, ein praktizierender Jude und ein praktizierender Christ zu sein; der Jargon der Sowjetpresse bei den antisemitischen und den antichristlichen Insinuationen war fast bis zum Verwechseln ähnlich. Desto feierlicher und freudiger ergriff und vereinte uns das Gefühl: dort draußen saust die sowjetische Welt, hier aber wird der Name des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs angerufen. Viele, viele Jahre später, als ich am Ende der Perestroika-Zeit in Oxford zusammen mit meiner Frau weilen durfte, hat uns der Sohn des Dichters Boris Pasternak eingeladen, mit ihm zusammen seine britischen Verwandten zu besuchen. Unterwegs sagte er etwas schüchtern: »Ich weiß nicht, wie Sie es annehmen werden: vor dem Mahl beten meine Verwandten nach jüdischem Ritus.« Wir entgegneten unisono: »Uns wird es eine reine Freude sein, zu lauschen, wie der Name Gottes angerufen wird. Wir haben vielen Mahlzeiten beigewohnt, in der Sowjetunion und anderswo, bei denen es leider weggelassen wurde.« Jetzt ist alles so anders geworden. Es ist mir ebenso schwierig oder noch schwieriger, die Erfahrung meiner Generation den Jüngeren in meinem Russland mitzuteilen als einem ausländischen Hörerkreis. An Gott zu glauben, eine Kirche zu besuchen ist gefahrlos, zugleich aber innerlich schwieriger geworden. Statt der Verfolgungen droht uns die Gefahr einer plumpen, ungereimten Parodie auf das orthodoxe Establishment im spätzaristischen Stil. Gerade die Ex-Kommunisten, also die Leute, die kein Verständnis für die Solidarität von damals hatten und gerade als Verfolger agierten, treten heute als Zeloten der Orthodoxie hervor, als Verfechter eines pseudoorthodoxen Isolationismus, der nach ihren Plänen den kommunistischen Isolationismus ersetzen soll. Ich kenne gut eine Frau in Sankt Petersburg: ihr Berufsleben an einem Institut war unbequem ob ihrer Kirchentreue, die Parteibosse des Instituts schikanierten sie reichlich. Und dann kommt die Wende; sie arbeitet viel für die Kirche, zugleich hilft sie bei den Kontakten der Sankt Petersburger Orthodoxen mit der weltbekannten Benediktinerabtei Chevetogne. Aber ihre Parteibosse bleiben Bosse nach wie vor; und einer, der an den Schikanen von damals gern teilnahm, lässt sie zu ihm kommen und fragt sie im Tonfall eines Verhörs: »Sind Sie orthodox genug?« Sie entgegnet: »Mit welchem Recht stellen Sie, gerade Sie, eine solche Frage? Sind Sie denn mindestens getauft?« Und sie bekommt die Antwort: »Ob man getauft ist, hat keine Bedeutung. Aber sind Sie orthodox genug?« Ein russischer General, der in der Politik sehr aktiv sich zeigt, hat neulich gesagt: »Selbstverständlich bin ich selbst ein Atheist; aber die politische Zukunft Russlands ist untrennbar mit der Orthodoxie verbunden.« Und etwas später: »Wir sind Russen, Gott mit uns!« Dieses »Gott mit uns« eines Atheisten hat offenkundig mit der pseudo-frommen Phraseologie des Dritten Reichs mehr zu tun als mit dem biblischen »Immanuel«. Gerade so lobpriesen am Anfang des Jahrhunderts die Anführer der ultranationalistischen Action Française, die selbst Atheisten waren, »la belle ordre catholique« als einen Nationalwert der Franzosen. Die Geschichte wiederholt sich. Aber damals zeigte der Vatikan sich weise genug, um sich von der Action Française zu distanzieren und zu erklären, dass die »belle ordre catholique« eben nicht katholisch sei. Ebenso hat die »Orthodoxie«, die durch den atheistischen General und seinen ex-kommunistischen Gesinnungsgenossen gepredigt wird, mit dem orthodoxen Glauben der russischen Märtyrer und Bekenner nichts Gemeinsames. Die grotesken Züge dieser Imitation mahnen uns an die Wahrheit, die zu teuer erkauft wurde, um heute vergessen zu sein. Dank der Grenzsituation, welche die unzähligen Opfer unserer Vorfahren im Glauben gefordert hatte, haben wir einmal untrüglich erkannt: die Distanz zwischen den verschiedenen Konfessionen und vielleicht auch Religionen, wenigstens den monotheistisch-abrahamitischen, ist nicht so definitiv und absolut wie eine andere Trennung, die quer durch alle Konfessionen und Religionen geht – zwischen denen, die ihren Glauben als das für sie wirklich Primäre betrachten und ihn folglich zu leben versuchen, und denen, die aus ihrer Religion eine instrumentale und manipulierbare Ideologie für den taktischen Gebrauch, z. B. einem nationalen Symbol machen wollen. Heterogene Zielsetzungen entstellen ja immer den Sinn der Glaubensbotschaft. »Ein ungläubiger Totalitarist«, hat Elie Wiesel einmal gesagt, »begnügt sich damit, dass er die Menschen versklavt, aber die Ambitionen eines gläubigen Totalitaristen gehen höher: Er will Gott selbst zum Sklaven machen.« Es ist wohl die extremste, die letzte Blasphemie, der unheilbare Verrat. Im Glauben aber geht es um »emunah«, um Treue. Nochmals, die Grenze zwischen den Treuen, den »fideles«, und den Treuebrüchigen geht quer durch alle Konfessionen. Ich habe schon den russischen orthodoxen Philosophen Lew Karsawin erwähnt, der gegen den Katholizismus polemisierte und doch im GULAG seine letzte Kommunion aus den Händen eines katholischen Priesters empfing; warum aber hat er so getan? Im Lager, wo Karsawin gestorben ist, gab es einen orthodoxen Priester, der aber als Verräter und Kollaborateur galt. So geschah die Entscheidung Karsawins: Nicht der Konfession nach, nicht zwischen einem orthodoxen und einem katholischen Priester, sondern zwischen einem, der treu geblieben war, und einem, der sich als untreu erwiesen hatte. Ich versuche nicht, gerade dieser praktischen Entscheidung eines Sterbenden absoluten Wert zu geben, schon darum, weil der Verrat dieses armseligen orthodoxen Priesters, auch eines Verhafteten, eine Untat der Schwäche war, mit der zynischen Kälte der oben erwähnten Ideologie nicht vergleichbar, und weil der Glaube an die Kirche, der durch ein Schauspiel der Schwäche erschüttert wird, es eben kaum verdient, Glaube zu heißen. Aber die unmittelbare erfahrungsgemäße Erkenntnis, dass der Abstand zwischen Treue und Untreue wesentlicher ist als die konfessionelle Trennung, hat wohl eine Bedeutung, welche die rein situativen Grenzen transzendiert.

Was wir einst erschaut haben, ist aufbewahrt in unserem Gedächtnis. Ich fühle mich verpflichtet, mindestens meinem Gedächtnis möglichst treu zu bleiben, obwohl auch mir, wie meinen Schicksalsgenossen, heute kaum mehr möglich ist, das einst Erschaute unmittelbar zu vernehmen. Wie es immer geschah, ruft das Ende der Verfolgungen alsbald Zwistigkeiten unter den Gläubigen hervor. Auch ich bin heute, zu meinem unsagbaren Kummer, in diese Zwistigkeiten hineingezogen. War unser gegenseitiges Verständnis von gestern nur ein taktisches und pragmatisches Paktieren gegen die gemeinsamen Verfolger, eine nur durch ein »Feindbild« stimulierte vorübergehende Annäherung? Wenn es so ist, was Gott verhüten möge, dann ist abermals alles umsonst gewesen, ist eine große Chance vertan. Ich meine nicht nur die Chance einer religiösen Versöhnung, obwohl mir der Gedanke daran, wie aus dem Gesagten folgt, eine Herzenssache bleibt. Doch auch die wirklich heilige Sache der Versöhnung, wie auch manche andere heilige Sache, läuft Gefahr, als eine pragmatische Zielsetzung, als eine Aufgabe für bloße »efficiency« verstanden und dadurch aus ihrem Sinnkontext herausgenommen zu werden und zu einem Klischee des allzu hastigen Denkens zu degenerieren. Sind wir doch berufen, erst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen; »alles Übrige« – das Gedeihen unseres irdischen Vaterlandes oder der ganzen Menschheit, die Lösung der schwierigen Konflikte, einschließlich die religiösen, – soll uns hinzu gegeben werden (Matth. 6, 33), soll aus dem Grund jener »Gerechtigkeit«, »zédek«, erwachsen und erblühen. Und die Gerechtigkeit vom Reich Gottes schließt in sich die Fähigkeit, die geistigen Proportionen, die Größenverhältnisse der geistigen Welt klar genug zu vernehmen, das Wesentliche zu unterscheiden. »Mensch, werde wesentlich!«, hat uns der alte Angelus Silesius gemahnt.

Es ist leicht zu sagen, aber nicht leicht zu befolgen. Alles wird so schnell zum Klischee: die so ernsthaften Themen, wie Erfahrungen von dem sowjetischen totalen Krieg gegen den Glauben, wie auch Erfahrungen von der »Schoah«, – vom Holocaust – sind aus dem Prozess der gedanklichen Banalisierung leider nicht ausgenommen. Alles wird so leicht zur gut gemeinten Phraseologie. Diese Phraseologie kann allzu gefühllos bleiben, kann auch larmoyant-pathetisch werden, das eine ist nicht besser als das andere. Unsere Schwäche besteht darin, dass wir zu gern mit fertigen Worten denken. Eben darum versuche ich, das unmittelbar damals Erlebte ins Gedächtnis zurückzurufen, um den Standpunkt zu klären, zu dem dieses Erlebnis uns zwingt. Nur ein Beispiel. Ich habe Ihnen über die ausweglose Trübsal erzählt, in die ich durch das Wissen um jenes Geschehen im Dorf, also um den Verlust jeder Achtung und Selbstachtung gekommen bin. Danach sollten wir reichlich erfahren, dass es nicht nur totalitaristische, sondern auch demokratische Respektlosigkeit gibt. Natürlich sehe ich auch einen wirklich großen Unterschied: die totalitaristische Respektlosigkeit richtet sich gegen völlig entrechtete, jedem Unrecht ausgelieferte Schichten, gegen die Gläubigen unter der Herrschaft des Kommunismus, gegen die »Nicht- Arier« in der Hitler-Zeit, während in einer Demokratie jeder Angegriffene mindestens theoretisch das Recht behält, zurückzuschlagen. Ich verstehe auch, dass es manchmal notwendig ist, eine gewisse Respektlosigkeit auf sich zu nehmen, wenn es gilt, die ganze Wahrheit ungeschminkt zu sagen. Aber mein Herz, das damals durch die Respektlosigkeit der Gewalthaber gekränkt worden ist, kann nicht anders: es sehnt sich danach, jedem Menschenbild Achtung und Respekt zu erweisen, auch wenn ich einmal genötigt bin, die ganze Wahrheit ungeschminkt auszusprechen; es will auch bei der schärfsten Polemik dem Gegner Achtung und Respekt nicht versagen, und es fordert: Wenn wir einmal eine Respektlosigkeit auf uns nehmen müssen, dass wir diese Last dann wirklich als schwere Last empfinden. Denn bei jeder rücksichtlosen journalistischen Polemik kommen mir jene braven Dorfjungen in Erinnerung, die ihre Eltern und Großeltern mit Begeisterung vom Kirchturm herab besudelt haben. Ich kann nicht anders: diese Erinnerung kann ich nicht loswerden.

So also wirkt unsere Erfahrung, die anderen mitzuteilen und auch in uns selbst zu bewahren, so schwierig und zugleich so unbedingt notwendig ist. Auf das alternative Schema »Toleranz – Intoleranz« kann ihr Sinn kaum restlos gebracht werden. Dem Glauben, der Glaubenstreue eines anderen gegenüber verpflichtet uns das Erlebte nicht bloß zur Toleranz, sondern, was mehr ist, zur Solidarität, also gewissermaßen zur Einigkeit. Und wehe uns, falls wir diese Einigkeit nur als zeitweiliges Paktieren gegen den gemeinsamen politischen Feind dereinst verstanden haben und sie noch heute so verstehen! Nein, wenn zwischen jenem neu zum Glauben seiner Väter gekommenen und mir eine Einigkeit entstanden ist, so ist es eine Verschwörung der Treue – eine Verschwörung nicht etwa bloß gegen die sowjetkommunistische Ideologie, sondern zu allererst gegen unsere eigene innere Schwäche, gegen unsere eigene allzu mögliche Untreue gewesen. Und diese Einigkeit der Treue und der Treuen soll bestehen, auch da, wo sie emotionell nun nicht mehr so lebendig empfunden wird. (Die Treue hat ja mit dem bloß Emotionellen nicht viel zu tun.) Aber dem Zeitgeist gegenüber hat uns unsere Erfahrung recht misstrauisch gemacht. »Passt euch nicht diesem Äon an!« (»mē syschēmatízesthe tōi aiōni toútō«, auf lateinisch: »nolite conformari«), so mahnt uns der Apostel Paulus im »Römerbrief« (12, 2), und dieses Wort, das in der Sowjetwirklichkeit einst so erschütternd gewirkt hat, ist doch für alle Verhältnisse gültig, nicht nur für die einer totalitaristischen Gesellschaft. Freilich hat die große Wirklichkeit der heutigen demokratischen Zivilisation eben alle Rechte einer Wirklichkeit. Aber das gängige System der ideologischen Klischees, das sich auch als »demokratisch« zu geben weiß, wird dadurch mit jener Wirklichkeit nicht identisch. Es gibt einen Konformismus der alltäglichen Reaktionen, des Lebensstils, der nicht immer und überall mit der politischen Sphäre etwas zu tun hat. Aber ein konformistisches Christentum ist immer eine »contradictio in adjecto«, ein Salz, das seine Kraft verloren hat. Auch diese Lehre ist von den Erfahrungen, die wir gemacht haben, tief in unser Herz und unser Gewissen eingeprägt. 

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