Runder Tisch 23.05.2012
Die Zukunft des Buches – Netzliteratur oder E-Book?
Eine apokalyptische Betrachtung von Dina Rubina

Was den Umgang mit Literatur betrifft, so hat mit in vielerlei Hinsicht der Umstand gerettet, dass ich im Stande der Unschuld zu publizieren begann. Ich war fünfzehn, als ich, ein Provinz-Mädchen aus Taschkent, törichterweise eine Erzählung an die damals populäre Zeitschrift „Junost“ schickte. Das hätt einerseits die normale Einstellung, als Schriftsteller schrittweise das Schreiben erlernen zu müssen, beeinträchtigen können; andererseits war es zugleich eine wunderbare Immunisierung gegenüber maßloser Selbstüberschätzung. Es war für mich eine Art Spiel: ich schicke eine Erzählung ein und sie wird gedruckt.

Als man mir später weitaus ernsthaftere Texte zurückschickte, war ich bis zu einem gewissen Grad eigentlich schon eine professionelle Autorin. Ich wusste, dass es bestimmte Arbeitsschritte gibt – auf einen Entwurf folgt eine nächste Version, die mühevolle Arbeit am Text. Außerdem muss das Ganze neu geschrieben werden, was ich damals noch mit der Hand tat. Mein Vater schenkte mit dann eine Schreibmaschine, als ich das Konservatorium besuchte – ich schrieb also mit der Maschine und tippte alles noch einmal ab.

Ich wurde also sehr früh zu einem professionellen Schriftsteller, der mit seiner Arbeit anfängt, um sie nach unendlich vielen Etappen zu vollenden. Etwas anderes kann ich gar nicht. Das rette mich auch. Ich weiß nicht, wie lange ich leben und ob ich den „Untergang der Literatur“ erleben werde. Was aber die Netzliteratur betrifft – so halte ich sie für ein Übel. 

Sie ist ein Übel für die Jungen. Ich bin eine Anhängerin der Unterordnung – der Unterordnung in Beruf und Gesellschaft, der Unterordnung unter die Macht – Unterordnung ist für mich ein unabdingbarer Bestandteil jener Struktur, die eine menschliche Gesellschaft überhaupt möglich macht. Das trifft auf alle Bereiche zu und beginnt bei der kleinsten Zelle der Gesellschaft, der Familie. Ich hatte in Amerika einmal mit einer indischen Familie zu tun – die Inder sind sehr familienorientiert, sehr in verschlossen. Sie reisen gemeinsam mit der Familie, mit allen Tanten und Onkeln, Müttern und Vätern. Eine Person mittleren Alters erzählte mir also davon, wie sehr sich die Familienmoral verändert hat: „Wenn mein Vater den Raum betrat, stand ich auf. Wenn ich das Zimmer betrete, steht mein Sohn schon nicht mehr auf.“ Ganz ähnlich sagte eine israelischer Autor einmal: „Mein Vater sprach seinen Vater als „Aba - More“ an, als „Vater – mein Lehrer“. Ich redete meinen Vater mit „aba“, mit „Vater“ an. Mein Sohn nennt mich Joram, und sein Sohn wird ihn einfach mit einem Schnippen herbeirufen.“

Was also die Netzliteratur betrifft, so erfolgt dabei nicht nur um eine vollständige Beseitigung  aller literarischen und kulturellen Unterordnung, die Bedeutung der einzelnen Entwicklungsschritte einer menschlichen Persönlichkeit, der Persönlichkeit des Lesers und des Autors wird durch sie aufgelöst. Was die elektronischen Bücher betrifft, so kann ich sie von ganzem Herzen nicht ausstehen, wie eben ein Schriftsteller alles, was kein Buch ist, ausstehen kann.  Der Lektor meines Verlages sagte mir einmal: „Wissen Sie, Dina, diese E-Reader sind nicht nur ein Übel für die Verlage, sie sind auch eines für die Schriftsteller; ich habe meinem Sohn zum Geburtstag einen E-Reader gekauft und darauf sind neuntausend Bücher hochgeladen.“ Was bedeutet das? Sie sind alle von irgendwoher runtergeladen. Da finden sich also Turgenjew und Tolstoj – Gott sei Dank und wunderbar, wenn der Junge diese Sachen liest. Aber wer weiß, welches Zeug er  sonst liest. Überdies sind wir, im Unterschied zu den Klassikern, noch am Leben und wollen unsere Prozente vom Verkauf der Bücher erhalten. Unsere Arbeit wird aber einfach runtergeladen und gratis verwendet. Einer der für die Literatur und das Leben der Autoren zur Zeit wichtigsten Punkte ist die gänzliche Missachtung der Rechte des Autors, der in der Regel ohnehin ein miserables Lebe führt. Das ist ein wirklich großes Übel in der zeitgenössischen russischen Literatur. Ich weiß nicht, wie es um die Autorenrechte in Deutschland oder Österreich bestellt ist – in Russland schert sich jedenfalls niemand darum.

Ich habe es kürzlich in einem Interview, in dem ich nach meinem Verhältnis zum freien Zugriff auf meine Texte im Internet gefragt wurde,  so ausgedrückt – ich finde das sehr schlecht, denn niemand würde zustimmen, dass ihm für seine Arbeit kein Lohn bezahlt wird, es sei denn, es handelt sich um reine Wohltätigkeitsaktionen. An solchen nehme ich auch teil, spende für verschiedene Organisationen … aber ich mache das, wenn ich es  freiwillig tun will, und nicht dann, wenn man mir einfach in die Tasche greift. 

Ich bin überzeugt, dass kein Internetbenützer, der meinen neuen Roman kostenlos herunterlädt – eine Roman, in den ich eineinhalb Jahre lang viele Stunden Schwerstarbeit investiert habe, was zum Verlust des Schlafes und zur totalen Zerrüttung meines Nervensystems führte – ich bin überzeugt, dass kein Mensch es zuließe, dass er beim Kauf eines Herings im Geschäft reingelegt wird. Er würde sich sofort beim Geschäftsführer beschweren.

Dass im letzten Jahr der Verkauf von Büchern um vierzig Prozent zurückging, ist ein eigenes Drama. Viele Verlager meinen, dafür trage die Verbreitung der E-Reader die Schuld.

Ungefähr so legte ich meine Position in diesem Interview darf – und plötzlich erhielt ich von einem Leser meiner Homepage eine E-Mail: „Sehr geehrte Dina Rubina, ich schäme mich außerordentlich. Ich bin ein Dieb. Ich habe all ihre Bücher gratis aus dem Internet heruntergeladen. Wenn Sie mir ihre Kontonummer schicken und mitteilen, welche Summer ich Ihnen schulde, überweise ich Ihnen den Betrag.“ Ich habe geantwortet: „Lieber Jewgenij, Wladimir, Alexander – ich erinnere mich nicht mehr an den Namen – es ist sehr erfreulich, dass Sie diesen Brief geschrieben haben. Das bedeutet, Sie haben etwas verstanden.“

Was den Untergang unserer Zivilisation betrifft – so möchte ich an einen Essay von Umberto Eco erinnern, der zweifellos ein Mann mit einer ausgeprägt liberalen Einstellung ist.  Eco erwähnt in diesem Essay das Beispiel eines römischen Patriziers, der sich zur Zeit des Niederganges des römischen Imperiums im Senat dagegen aussprach, dass man das römische Bürgerrecht den Barbaren, all diesen Sarmaten, Juden usw. verlieh. Dann folgt der entscheidende Satz: „Die Geschichte hat sich an diesem Senator die Schuhe abgeputzt.“ Ich sage das deshalb, weil wir was auch immer behaupten können – vermutlich wird sich die Geschichte an uns die Schuhe abputzen. Gut möglich, dass sie das auch bei Eco tut. Aber er weiß immerhin schon davon.

Was unsere Leser betrifft: Natürlich bewirken die Netzliteratur und die unendlichen Auflagen des ganzen Mists eine Verwahrlosung des Geschmackes – aber das war immer so. Nicht mit derartigen Auflagen, aber trotzdem – auch in Puschkins Zeiten  gab es Autoren für den Massengeschmack, nur sind diese mittlerweile vergessen. Ich las vor einiger Zeit zwei Bände mit Autoren, die Tschechows Zeitgenossen waren, und war verblüfft. Die Erbärmlichkeit ihrer literarischen Fähigkeiten war erstaunlich, auch wenn es sich um seinerzeit durchaus bekannte Autoren wie Potapenko, Schtscheglow, Jasinksij, oder Kiseljow handelte.  Dabei waren das nicht einmal die schlechtesten Autoren ihrer Zeit, allein der Unterschied zu Tschechow ist gigantisch. Auch im Fall der zeitgenössischen Literatur wird es zu einer Art natürlicher Auslese kommen.

Aufgrund meiner Lesungen in Russland weiß ich, dass meine Leser höchst unterschiedliche Menschen sind. Einmal sprach ich mit meiner Lektorin. Sie bezeichnet sich selbst als „Händlerin“. Sie zieht keine Preisträger heran, viel mehr beschäftigt sich mit einer einfachen Sache – sie kümmert sich um die Auflagen. Aber dieses Geschäft beherrscht sie! Sie weiß aufgrund ihrer Intuition, wann eine Neuauflage eines Buches erscheinen, zu welchem Zeitpunkt das Cover geändert werden muss. Ich habe sie also gefragt: „Sagen Sie, dieser oder jener, das sind doch gute Autoren, es gibt gute Übersetzungen ihrer Bücher, sie haben Preise erhalten – warum sind deren Auflagen so gering, warum werden diese Bücher nicht gekauft?“ Sie gab eine sehr einfache Antwort: „Ich weiß es nicht, man mag sie einfach nicht.“ – „Aber warum denn?“ – „Man mag sie halt nicht.“ Vor kurzem war ich in der Buchhandlung am Arbat, es gab eine Lesung samt Signierstunde – die übliche Werbeaktion. Ich kam früher und schaute mich in den Regalen nach den Auflagen der Bücher um. Zur Hand nahm ich das Buch eines Autors, der als Person höchst populär ist und ständig im Fernsehen auftaucht, ein sehr jovialer Typ. Er ist allpräsent.  Allerdings bemerkte ich – die Auflage seiner Bücher betrug dreitausend. Ich frage die Lektorin: „Warum ist das so?“ Sie sagt: „Man mag ihn nicht.“ – „Was heißt, man mag ihn nicht – er ist doch ständig im Fernsehen?“ – „Im Fernsehen mögen sie ihn – in den Büchern lieben sie ihn nicht.“ Das mag vielleicht kurios klingen, hat aber ein Körnchen Wahrheit.

Man muss sich nur an die Zeit erinnern, als Sergej Dowlatow plötzlich 0auftauchte. Er wurde schlagartig zu einem äußerst beliebten Autor. Nicht was die Auflagen betraf – die Auflage ist eine Sache für sich –,  aber er wurde zu einem äußerst beliebten Autor. Ich hoffe sehr auf dieses spontane Gefühl der Leser, die sich im unüberschaubaren Feld der Literatur für einen Stil, eine Persönlichkeit, für die Bücher eines bestimmten Autors entscheiden  … Und es gibt diesen Autor!