Runder Tisch 23.05.2012
Die Zukunft des Buches – Netzliteratur oder E-Book?
Eine apokalyptische Betrachtung von Alexander Kabakow
In der Redaktion, in der ich einmal gearbeitet habe, gab es eine Putzfrau, die am Ende des Tages beim Ausleeren der Papierkörbe immer grummelte: „Vierzig kräftige Männer, die nichts tun, außer schreiben.“ Grundsätzlich ist ein derartiges Verhältnis zu schreiberischer Tätigkeit recht normal. Sinn und Charakter dieses Tuns bleiben den meisten Menschen verborgen. Selbst die schlauesten der Amateure glauben, der Sinn des Schreibens bestehe darin, Geschichten zu erfinden, die im günstigsten Fall belehren und unterhalten, auf dass die Menschen einen Zeitvertreib haben und entsprechend den Absichten der Verfasser besser, schlechter, klüger, fröhlicher, moralischer oder unmoralischer werden. Selbst jene, die unmittelbar mit Literatur befasst sind, meinen, sie habe ein bestimmtes Ziel. Anders gesagt – ist doch wahr: Tausende gesunde Männer und sympathische Frauen tun nichts anderes als schreiben … Gibt es nämlich ein bestimmtes Ziel wie die Verbesserung der Menschheit, wenn die Literatur Menschheit näher an eine leuchtende oder an eine düstere Zukunft heranführt, wenn sie zur Veränderung der sozialen Weltkarte beiträgt, dann ist auch verständlich, womit sich diese merkwürdigen Leute befassen. Dann versteht man, sie haben eine höchst bedeutsame soziale, sozial-psychologische oder politische Aufgabe – sie verändern die Menschheit. Ich glaube, es gibt diesen Irrtum ebenso lange wie es die Literatur selbst gibt. Außerdem bin ich überzeugt, dass die Versuche, die Menschheit mittels Literatur zu verändern (wann immer sie unternommen wurden), allesamt fehlschlugen.
Vor einiger Zeit, genauer gesagt, ab dem Zeitpunkt, den man als den Anfang der Postmoderne bezeichnen kann, haben die Schriftsteller allerdings damit aufgehört, derartige Versuche zu unternehmen. Die Literatur wurde in erster Linie zu einem Spiel – mit Ideen, Worten, mit den Ideen und Worten von anderen. Damit hat sich die ganze Geschichte merkwürdigerweise von selbst erledigt. Keiner erwartet noch ernsthaft etwas von Literatur – etwas, das von Belang für die Seele oder für die Gesellschaft von Bedeutung wäre. Es ist alles bestens. Die Literatur wurde zu einem Spiel … Allerdings stellt sich auch heraus, dass das vielleicht doch nicht ganz so günstig ist. Es stellte sich heraus, man hätte doch ganz gerne einige Dinge von der Literatur. Wenn sie uns nichts lehrt, nichts analysiert, weder verbessert, noch verschlechtert, kurz – wenn sie gar nichts bewirkt, wozu dann das Ganze? Was soll diese Spielerei überhaupt? Selbst Märchen werden den Kindern erzählt, um Buben oder Mädchen gute oder schlechte Eigenschaften einzuimpfen. Bewirkt die ernsthafte Literatur für Erwachsene hingegen gar nichts, spielt sie einfach nur ihre eigenen Spielchen, dann stellt sich heraus, das allein genügt nicht! Es stellte sich heraus, dass sich die alte Fabel, in der der alte Esel den jungen mitschleppt sich in bezug auf die Literatur endlos wiederholt. Wie immer sich die Literatur positioniert, nichts stimmt mehr.
Ilja Ilf bemerkte in seinen Notizbüchern noch, Schriftstellerei sei in der sowjetischen Gesellschaft ein ganz besonderer Beruf, der sich dem Volk gegenüber immer zu verantworten habe. Allerdings handelte es sich dabei um eine durch und durch sowjetische Sicht der Dinge. Man vertrat die Auffassung – die Intelligenzija ist nicht das Volk, sondern dem Volk gegenüber verantwortlich. Irgendwie befand man sich zwar nicht mehr in der Zeit des Agitprop, diese Dinge gehörten der Vergangenheit an, aber die Literatur muss sich nichtsdestotrotz der Menschheit gegenüber verantworten, zumindest vor deren lesendem Teil.
Auch daran ist nichts Erstaunliches. Die lesende Teil der Bevölkerung befindet sich der Literatur gegenüber in der Position des Verbrauchers, üblicherweise sind Konsumenten mit den Produzenten aber unzufrieden – das ist schlecht, hier stimmt etwas nicht, dies ist zu teuer usw. Allerdings fällt hier eine Merkwürdigkeit ins Auge: Die Literatur selbst erwies sich als etwas, das auch ihrem Produzenten gegenüber in der Schuld stand; auch er war damit unzufrieden. Bei all diesen runden Tischen, in denen Autoren beginnen, die Lage der aktuellen Literatur zu diskutieren, möchte ich den Diskutanten zurufen: „Hört mal, dann gebt die Sache doch auf. Wenn alles so schlecht ist, hört mit der Schreiberei einfach auf.“
Jeder Schriftsteller hat üblicherweise eine andere, „normale“ Ausbildung. Arbeite einfach wieder als Ingenieur, als Arzt – was auch immer du früher gemacht hast. Sollte das nicht auf Anhieb gelingen, dann geh eben schrittweise vor – du wirst Pfleger, dann Arzt, alles der Reihe nach. Beschäftige dich aber mit etwas Normalem, wenn doch alles so schlecht und die Literatur so schrecklich ist, wenn sie unter den Händen geradezu zerfällt …
Der Zerfall der Literatur erfolgt gleichsam in zwei Richtungen: Einerseits verfault sie vom Kopf her, das ist ihr postmoderner Zerfall. Es handelt sich um die für niemanden bestimmte Literatur, wir bleiben nur noch unter uns. Sie ist dann nicht einmal für einen selbst bestimmt, sondern ausschließlich für sich. Jene Literatur, die als absolut postmodern gilt, ist nicht einmal für den Autor selbst bestimmt, der alles schon im Vorhinein kennt. Du weißt alles. Alles hast du im Voraus schon im Kopf geschrieben. Diese Literatur ist für jene Leser bestimmt, die dem Autor praktisch ident sind. Das beste Beispiel dafür ist Wladimir Sorokin.
Andrerseits verfault die Literatur vom Schwanz her. Am Umstand, dass es Darja Donzowa nun einmal gibt, lässt sich nichts mehr ändern. Warum ich den konkreten Namen Donzowa nenne? Sie ist geradezu ein Symbol für den Verfall der Literatur vom Schwanz her ist. Nicht weil es sich etwa um ein Beispiel für schlechten Abenteuer- oder Kriminalromane handelt; was das Genre Krimi betrifft, sind – meiner Meinung nach – auch jene von Agatha Christie schlecht, unrichtig. Sie sind, was das Genre Kriminalroman betrifft, einfach schlecht gemacht. Aber das ist meine Ansicht – hier geht es aber nicht darum, ob Donzowa gute oder schlechte Krimis schreibt.
Es geht vielmehr darum, dass sich Donzowa am Allerheiligsten vergreift, woran man sich ohne Beherrschung der entsprechenden Mittel nicht vergreifen darf – am Humor. Hätte sie nicht versucht, Witze zu reißen, würde ich ihr alles verzeihen. Und sie vergreift sich darüber hinaus an der Literatur selbst – sobald etwas gleichsam mit Humor geschrieben ist, geht es um Literatur. Ohne Humor wird eine Jahresbilanz geschrieben, ein Roman über die Errichtung der Sowjetmacht im Altai und vergleichbare Werke. Dabei geht es nicht um Humor. Literatur aber wird nicht ohne Humor geschrieben – weshalb ich auch (nebenbei gesagt), darauf festhalten möchte, dass Humor kein eigenes Genre der Literatur ist, sondern eine unabdingbare Eigenschaft jeder echten Literatur. Kurz gesagt – Agrippina Wasiljewa (d.i. Darja Donzowa) beansprucht für sich, Literatur zu schreiben. Und dies verstehe ich als Zerfall vom Schwanz her.
Was geschieht also, wenn die Literatur von beiden Enden her zerfällt. Bedeutet das, dass ihr Ende absehbar ist? Ist Literatur für ganz und gar nichts mehr zu gebrauchen, ist ihr Tod nur noch eine Frage der Zeit?
In diesem Moment kommt, wie das immer der Fall ist, rechtzeitig die Technik ins Spiel. Auch der Verbrennungsmotor und das automatische Gewehr wurden zur richtigen Zeit erfunden – genau bei Beginn des Ersten Weltkrieges. Wären sie nicht erfunden worden, es hätte hundert Mal weniger Opfer gegeben. Technische Erfindungen werden immer zur richtigen Zeit gemacht, wenn es dafür gesellschaftlichen, politischen oder ästhetischen Bedarf gibt.
Wir haben jetzt den E-Reader bekommen. Sofort begannen alle zu schreien – gerade schien die Literatur noch zu sterben, jetzt gleich, im nächsten Augenblick! Man hatte sich schon rund ums Bett versammelt, eigentlich mussten alle sofort wieder weg zu ihrer Arbeit, die Literatur aber wollte und wollte nicht sterben. Und jetzt ist sie tot – denn der E-Reader bedeute wirklich ihr Ende. Welche Literatur soll das noch sein, wenn es nicht einmal den Geruch von Papier gibt? Wie mir dieses Jammern gefällt – ach, es riecht nicht nach Druckerschwärze!
Ihr Jammerlappen, nach Druckerschwärze riecht hier schon lange nichts mehr, genau gesagt, seitdem der Hochdruck verschwunden ist. Man spürt auf den Fingerspitzen das Papier nicht mehr – mittlerweile haben irgendwelche Idioten einen E-Reader erfunden, der sich zusammenrollen lässt. Man kann jetzt sein Buch zusammenrollen und damit ein bekanntes Bedürfnis befriedigen – „steck es in den A.…“. Allerdings handelt es sich beim E-Reader diesbezüglich um ein teures Vergnügen. Ja, für den E-Reader wurde auch ein Programm entwickelt, das den Eindruck des Umblätterns erzeugt. Hier ist es – bitteschön. Das ist der E-Reader, und er bringt die Literatur endgültig um.
Warum er die Literatur umbringt, das ist nicht ganz einfach zu verstehen. Zu behaupten, der E-Reader bringt die Literatur um, ist genauso unsinnig wie die Behauptung, seinerzeit hätte die Schreibmaschine die Literatur umgebracht, oder noch früher – Gutenbergs Druckerpresse. Ich weiß nicht, was die Literatur sonst noch ermordet haben könnte. Ja, vielleicht die neuen Bindungsverfahren, als man bei hohen Auflagen begonnen hat, die Bögen nicht nur zu vernähen, sondern zu leimen. Davor wurden solche Bände nur im Auftrag von Besitzern einer Bibliothek hergestellt, und jeder hatte seine Bände in Leder gebunden …
Wie wurde denn Puschkin gekauft? Puschkin kaufte man in Fortsetzungen. Vierundzwanzig Seiten wurden gebunden und verkauft. Das Verleimen des Buchrückens war etwas grundsätzlich Neues. „Jewgenij Onegin“ wurde nicht einfach nur ein Roman, sondern ein – Buch.
Der E-Reader ist meiner Meinung nach eine Technologie, die eigentlich gar keinen Bezug zur Literatur hat. Es handelt sich vielmehr um eine Technologie zum Verkauf von Texten.
Eine andere, etwas frühere Erfindung, die aber auch gerade zur rechten Zeit gemacht wurde, ist das Internet – ohne dass es jemand bemerkte, schlich es sich sogar ein wenig früher an. Das Internet und die so genannte Netzliteratur. Auch sie kann man auf dem E-Reader lesen, oder auch direkt – online, am Bildschirm, oder in Form von „printed on demand“; das macht keine großen Unterschiede, alle was für das Netzt geschrieben wird, ist wie eine Krankheit der Literatur.
Worin besteht nun die Gefahr der Netzliteratur? Wenn ich glücklicherweise etwas anderes tue, als bloß irgendeinen Dreck zu produzieren (zum Beispiel Romane schreiben) – nehmen wir an, ich stelle Kugelschreiber her. Es gibt da jemand im Betrieb, der die Interessen des Auftraggebers wahrnimmt; es gibt einen, der das Ganze an den Einzelhandel verkauft – den Zwischenhändler. Der achtet auch noch einmal darauf, ob alles in Ordnung ist. Dann gibt es den Käufer und die Experten vom Verbraucherschutz. Mit einem Wort – eine riesige Anzahl von Menschen (einschließlich dem Schattens des Erfinders des Kugelschreibers) ist damit befasst, meine Arbeit zu überwachen, sie zu beurteilen und dieses Urteil bekannt zu geben, ob ich einen ordentlichen Kugelschreiber erzeugt, oder nur Mist gemacht habe.
Ich komme zu den Schriftstellern zurück. In der Netzliteratur fehlt diese erste und grundsätzlich wichtige Beurteilung durch die Experten. Und diese Etappe ist in der Netzliteratur auch ganz bewusst ausgeschlossen – zu Gunsten sehr energischer und durchsetzungsfähiger Menschen, welche die professionellen Redakteure und überhaupt die Profis in der Literatur als „Wasserträger“ bezeichnen. Es waren diese literarisch zwar untalentierten Analphabeten, die aber sonst durchtrieben und recht schlau vorgehen, die die Netzliteratur sofort erfanden, nachdem das Netzt aufgetaucht war. Womit sol man die Situation vergleichen – einer baut ein Haus, ein anderer schmiert die bekannten Wörter an die Mauer; das ist unvermeidbar, wenn man ein Haus baut. Die Netzliteratur ist ein Ausdrucksmöglichkeit für Graphomane und eine wirkungsvolle Weise, den literarischen Geschmack herabzusetzen. Allerdings hat sich herausgestellt, dass es für die Graphomanie aller Art, für dilettantische Imitation von Literatur äußerst große Nachfrage gibt. Wir haben jetzt ein neues Produkt auf dem Markt – die Graphomanie. Es ist nicht mehr Literatur, mit der früher Geschäfte gemacht wurden, sondern Graphomanie, mit der man sein Geschäft erledigt. Und – Kritik ist nicht erlaubt! – das Volk ist zufrieden, die Demokratie triumphiert.
Allerdings werden zu diesen Triumphen nicht alle eingeladen, literarischer Professionalismus hat dort nichts zu suchen, er ist sogar unerwünscht. Abgesehen davon ist alle bestens, alle sind schrecklich zufrieden: endlich werden die Geschmacksvorstellungen des Großteils der Menschen befriedigt, die imstande sind, Buchstaben zu lesen. Die große Masse – und für diese Worte wird man mich natürlich steinigen – kann gar keinen guten Geschmack besitzen, und sie besaß ihn auch nie. Über guten Geschmack verfügte der Feudalherr, der bei Cervantes Don Quijote in Auftrag gab, er hatte Geschmack und der Autor schrieb ihm dafür eine vierseitige Widmung. Guten Geschmack besaß der Mann, der das „Globe Theatre“ finanzierte. Diese Leute besaßen guten Geschmack, weil andere sie ernährten. Sie mussten sich nicht selbst um ihr Brot kümmern – die Bauern, Handwerker und Städter, die ihre Abgaben leisteten, ernährten jene, die dafür guten Geschmack hatten. Graf Tolstoj hat sie dafür berechtigterweise verhöhnt, auch wenn er selbst von ihnen ernährt wurde – nicht nur, als er „Anna Karenina“ schrieb, sondern auch, als er publizistisch tätig wurde und begann, die Reichen wegen ihrem Reichtum und ihrem guten Geschmack zu verhöhnen.
Die Masse der Arbeiter aber – und andere Massen gibt es nicht – woher hätte sie guten Geschmack nehmen sollen? Sie hat keine Zeit, guten Geschmack zu entwickeln, sie hat auch keine Zeit, „Ulysses“ zu lesen, nach einem Arbeitstag hat sie auch keine Energie mehr dazu. Infolgedessen bedeutet jedes Erstarken der Demokratie in Sachen kultureller Produktion eine Bewegung vom guten zum schlechten Geschmack. Es ist nicht nötig, sich hier für die Demokratie ins Zeug zu werfen – ich trete für sie selbst hoch und heilig ein! Urteilt man aber nur von einem ästhetischen Standpunkt aus …
Vom politischen Standpunkt aus gesehen ist die Demokratie – wie schon Churchill richtig bemerkte – die schlechteste Gesellschaftsordnung, eine bessere gibt es aber nicht. Wir leben damit, dass es etwas Besseres nicht gibt. Einverstanden? Da ist nichts zu machen – so sind die Menschen und die Welt beschaffen: Demokratie ist die beste aller Möglichkeiten. In den Tiefen meiner Seele zweifel ich zwar daran, aber sei`s drum. Gäbe es zusätzlich zur Demokratie noch eine Dynastie … aber gut. Lassen wir das mit der politischen Sicht der Dinge. Was aber den ästhetischen Standpunkt betrifft – so gibt es nichts Schlimmeres als die Demokratie. Nehmen wir zum Beispiel eine durchschnittliche Klasse in einer durchschnittlichen Schule – vier Vorzugsschüler, drei Mädchen und ein jüdischer Bub mit Brillen. Und dann sind da noch vier vollkommene Dummköpfe, die in jeder Klasse zweimal sitzen bleiben, die auf den hinteren Bänken ihr Unwesen treiben, der Turnlehrerin unanständige Angebote machen. Es gibt also diese acht Schüler-Extreme, in der Klasse sind insgesamt aber vierzig Schüler. Sie bekommen „befriedigend“, „genügend“, manchmal „nichtgenügend“ – durchschnittliche Menschen, mit mittelmäßigen Fähigkeiten. Vermutlich werden genau diese die Repräsentanten des durchschnittlichen literarischen Geschmacks.
Ja, die meisten von ihnen werden sich immer wieder Frage von der Art stellen – warum ist sie nicht zu Onegin gegangen? Welche Rolle spielt es, dass der Ehemann General ist. Alte Liebe rostet ja nicht … So wird das verstanden. Und für diese Leute gibt es jetzt Literatur. Diese Literatur wird auf dem Computer geschrieben – sehr schnell, denn das Wort hat dabei überhaupt keine Bedeutung. Sie wird sogar aus einem anderen Material hergestellt. Literatur wird aus Wörtern gemacht, die Netzliteratur hingegen aus allem, was grade daherkommt. Durch zweimaligen Knopfdruck wird sie ohne jegliche Zensur, ohne Lektorat, ohne Verlagsexpertise und ohne Einschätzung des Buchhändlers, der auch sein Urteil hat – kurz, sie wird ohne jegliches Urteil in unbegrenzter Auflagenhöhe veröffentlicht.
Man sagt mir, ihre Auflage sei begrenzt – durch die Anzahl der Benützer. Aber nicht die Auflage, sondern ihr Verkauf, wenn man das so nennen will, ist begrenzt. Außerdem wissen wir ja – Auflage und Anzahl der verkauften Bücher stimmen oft nicht überein. Und außerdem ist hier der Verkauf durch nichts beschränkt, im Gegenteil: alles ist gratis, warum also nicht herunterladen. Ich wiederhole es noch einmal – für den durchschnittlichen Leser ist es genau das, was er braucht. Für ihn ist Schilow schlecht, Makanin aber langweilig.
Er braucht überhaupt etwas jenseits von Literatur, das aber trotzdem wie diese aussieht. Letztlich kommt dabei heraus – alle sind zufrieden, die graphomanen Netzschriftsteller, und der durchschnittliche Leser. Sind aber alle zufrieden – dann ist das ein für die wirkliche Literatur äußerst gefährlicher Moment. Schimpfen alle über die Literatur – sie ist ja dem Leser gegenüber verpflichtet und der Ewigkeit gegenüber – dann ist alles in Ordnung. Heute sind aber alle zufrieden. Alle finden etwas zum Lesen, die einen lesen Ulitzkaja, die anderen Minajew.
Ich nenne diese beiden Namen nicht zufällig: vor einigen Jahren erreichte zwei Bücher etwa dieselbe Auflagenhöhe – Ulitzkajas literarisch anspruchsvolles Buch „Daniel Stein“ und der Minajews Abkömmling der Netzliteratur „Erzählung über eine unwirkliche Liebe.“ Das bringt mich auf einen sonderbaren Gedanken: Der Leser mit gutem Geschmack ist kein natürliches Phänomen. Gibt man ihm nichts anderes als echte Literatur, dann bekommt er gute Geschmack; gibt man ihm beides – Minajew und Ulitzkaja, so wird er beides lesen. Ich bin zutiefst überzeugt – hätte man neben dem Puschkin-Museum einen Videosalon eingerichtet – die Anzahl derer, die sowohl Matisse als auch „Rambo“ hätten sehen wollen, wäre ungefähr gleich.
Sie dürfen sich jetzt von meinem schwarzen Friedhofshumor nicht abschrecken lassen – die Antwort meines Zahnarztes, der gerade dabei war, nach Israel zu emigrieren, seine Antwort auf meine Frage „Sie gehen nach Israel, und was werde ich hier machen?“ lautete: „Das hängt davon ab, wie lange Sie leben wollen. Die Zähne, die ich ihnen gemacht habe, werden zwanzig Jahre halten.“ Dasselbe ist hier der Fall: Unser Verhältnis zur Literatur hängt davon ab, wie lange wir in dieser Zivilisation und in dieser Gesellschaft leben wollen, in der es Literatur gab und noch immer gibt, in der Literatur eine Rolle spielt.
Wie lange werden diese Zivilisation und diese Literatur, die wir, das lesende Publikum gewöhnt sind, noch existieren? Meine Annahme entspricht der meines Zahnarztes: für dieses Zivilisation reicht die Literatur noch aus. Unsere Zivilisation ist viel größerem Druck ausgesetzt und befindet sich in weitaus größerer Gefahr, als die Literatur selbst – jene Zivilisation, die die große Literatur hervorbrachte, von der wir hier sprechen. Eine ist eine Unmenge an Gefahren, die Leser und Literatur bedrohen.
Ich meine damit nicht einen Atomkrieg, den darf es nicht geben. Wir leben in einer Epoche nicht ganz offensichtlicher Zerstörung jener Zivilisation, die von Shakespeare, Dante, Puschkin und Gogol geschaffen wurde. Die Rede ist von der Zerstörung der christlichen Zivilisation. Sie gelangt meiner Meinung nach an ihr Ende. In der Erzählung „Leben mit einem Idioten“ von Wiktor Jerofejew (einem Autor, den ich eigentlich nicht schätze) wird das Sujet von einem defekten Lenin angetrieben – der verstorbene Schnittke hat eine Oper dazu geschrieben. Das Ganze, einschließlich Schnittke, gefällt mir nicht besonders, aber das ist eine andere Frage. Nur – wir erlebe jetzt genau diese Geschichte – „Ein Leben mit einem Idioten“. Wir leben da mit etwas Feindlichem, Unaufhaltbarem, Aggressivem, das selbst anderen Regeln folgt als wir selbst. Mehr noch – wir erlaube es diesem Irgendetwas, das nach anderen Regeln lebt, als wir, unsere Regeln gegen uns selbst anzuwenden. Und wenn sich die Literatur in Gefahr befindet, so auch nicht mehr als der ganze andere Rest. (der Zivilisation).
Die Internetliteratur ist widerstandsfähig wie die Küchenschaben, die auch einen Atomkrieg überlebe würden. Nichts kann ihr etwas anhaben – die Computer sind nicht mehr abzuschaffen. Nebenbei – in Moskau, wo es mehr Küchenschaben als Menschen gab, sind diese heute verschwunden. Vielleicht gefällt es ihnen nicht mehr. Vielleicht geht aber auch die Netzliteratur selbst unter – was sollen also die Menschen tun, die sich mit echter Literatur beschäftigen und nicht mit der Netzliteratur? Ich habe keine Antwort darauf. Bekanntlich hat die napoleonische Garde dem siegreichen Feind geantwortet: „Die Garde geht unter, sie ergibt sich aber nicht.“ Weil man den Anstand wahren will, wird diese Geschichte immer verkürzt erzählt. Denn das erste Wort der Garde war eigentlich „Merde!“ – „Scheiße!“. Die Garde geht unter, ergibt sich aber nicht. Mir kommt vor, das ist eine respektable Position zu sein – egal, wir werden gefressen, rumzappeln lohnt nicht.